„Nach jedem Test keine Milch trinken“

Australiens Aborigenes sind im Kampf gegen Frankreichs Atomtests ganz an der Spitze  ■ Aus Sydney Dorothea Hahn

Yami Lester lag noch im Bett, als die schwarze Wolke kam. Sie schwebte flach über dem Boden und hüllte den Jungen, seine Mutter und den ganzen Clan ein. „Es war plötzlich stockdunkel, und Mum sagte, das sei ein schlimmes Zeichen“, erinnert sich der Mann vom Volk der Pitjantjara an das Ereignis vor fast 40 Jahren.

Die Wolke sollte Lesters Leben bestimmen. Nicht nur, weil sie seinen Clan aus dem Wüstengebiet Maralinga in Südaustralien vertrieb, sondern auch, weil sie ihn Jahre später sein Augenlicht kostete. Lester jedenfalls ist davon überzeugt, daß die Atomtests in Maralinga die Ursache seiner Blindheit sind. Eine offizielle Bestätigung dafür hat er jedoch nie bekommen, eine Entschädigung auch nicht. Die Gerichte verneinten jeglichen Zusammenhang zwischen den britischen Atomtests und Lesters Krankheit und verwiesen stets auf die bei Aborigines besonders häufigen Erblindungen.

Das Testgebiet zwischen Adelaide und Alice Springs darf heute niemand betreten. Stacheldraht und australische Polizisten verwehren den Zugang zu dem Wüstengelände. Nach zwei Atombombentests auf den westaustralischen Montebello-Inseln waren die Briten Mitte der 50er Jahre nach Maralinga übergesiedelt, um sechs weitere Atombomben zu zünden. Wie damals üblich, taten sie das überirdisch – die Atompilze waren weithin sichtbar. Die schwarze Wolke, die im Anschluß an die Tests über die Wüste schwebte, war ein bekanntes Phänomen.

Bis zu 20.000 britische und australische Militärs nahmen an den Experimenten teil. Hunderte von Meilen von der nächsten Siedlung entfernt hatten die Briten eine ganze Stadt angelegt, mit einem Flughafen, der kaum kleiner war als der von Sydney. Die Pitjantjara, die in dem Gebiet lebten, erfuhren erst Jahre später, was auf ihrem Land geschehen war.

Bevor Peter McClellan das einstige Testgelände besuchte und dabei auf „lauter Metallstücke mit eingeschmolzenem Plutonium“ stieß, vergingen drei Jahrzehnte. Der Anwalt aus Sydney war in die „Königliche Maralinga-Kommission“ bestellt worden, die 1984 die Ereignisse in dem Testgebiet untersuchen sollte. Er verbrachte drei Monate in London, wo er – gegen teilweise heftigen Widerstand – Einblick in geheime Militärarchive der Briten nahm und einstige Beteiligte an den Tests befragte. Er gelangte an Dokumente, die kein Außenstehender zuvor gelesen hatte. 1985 resümierte die Kommission, daß die Briten Maralinga in einem derart verstrahlten Zustand hinterlassen hätten, daß der Boden komplett entsorgt werden müsse.

McClellan nennt seine Arbeit einen Erfolg: Australien hatte Aufklärung von der einstigen Kolonialmacht verlangt und endlich auch erreicht. Hunderte von Zeitungsartikeln, mehrere Bücher und ein Film machten das Ganze zu einem Medienereignis. Das Mißtrauen gegen Europa stieg, und der Anfang der Ablösung von der britischen Krone war getan – ein Prozeß, der auch heute noch nicht ganz abgeschlossen ist.

Jahrelang blieben Lester und sein Volk einsame Rufer. Als sie begannen, über die schwarze Wolke zu sprechen, waren der Zweite Weltkrieg, in dem viele Australier gekämpft hatten, und die Bedrohung aus Japan, von wo aus die nördlichste Stadt des Landes, Darwin, bombardiert worden war, noch in frischer Erinnerung. Die Einsicht in die Notwendigkeit der Atombombe war bei der breiten Öffentlichkeit stärker als die Kritik daran.

Doch als die Franzosen in den 60er Jahren ihr Testgelände von Algerien nach Moruroa verlegten, hatte sich die Stimmung geändert. „Immer wenn die ihre Bomben testeten, durften wir nachher keine Milch trinken“, erinnert sich eine junge Australierin an ihre Kindheit. Radiosender warnten die Mütter vor dem atomaren Fallout. Auf den Straßen fanden Demonstrationen statt, und die Regierung protestierte. Doch erst 1973 erreichte Canberra mit einer Klage vor dem Internationalen Gerichtshof, daß Frankreich seine Atomtests in den Untergrund verlegen mußte.

Der Jubel über das Ende der Atomtests in der Atmosphäre währte nicht lange. Bald schon stürzten die riesigen australischen Uranvorräte das Land in eine neue schmerzhafte Diskussion. Schon im Zweiten Weltkrieg war das Uran im Gespräch gewesen, damals im Zusamenhang mit dem „Manhattan-Projekt“, das zur Entwicklung der Hiroshima-Bombe führte. In den 70er Jahren setzte sich die Bergbau-Lobby in großem Maßstab durch: Australien begann einen Uranexport zu „friedlichen Zwecken“. Die Proteste von „Blackfellows“ wie Lester verhallten wieder einmal fruchtlos.

Aus der Opposition heraus kämpfte die Labour Party gegen das Programm – sie wollte Abbau und Export von Uran radikal einstellen. Kaum war sie 1983 an der Regierung, änderte die Partei ihre Position. Das Geschäft sollte weitergehen, kaum spürbar beschränkt auf drei der insgesamt 37 Minen des Landes. Um die Öffentlichkeit und die eigene Parteilinke nicht restlos zu verärgern, machte der Parteitag schließlich ein Kompromißangebot: Als Ausgleich zur „Dreiminenpolitik“ entstand die „Königliche Maralinga-Kommission“. Dieser Kuhhandel der Labour Party trug wesentlich zur Stärkung der australischen Friedensbewegung bei. Die „Partei für die nukleare Abrüstung“ bekam wenig später eine halbe Million Wählerstimmen in dem 17-Millionen-Einwohner-Land. Gegen die Raketen der amerikanischen Verbündeten in der Pazifik-Region gingen in Australiens Städten Hunderttausende auf die Straßen. Und auch das australische Atomprogramm geriet an den Pranger.

Der Reaktor, den die Atomindustrie in den 60er Jahren auf halber Strecke zwischen den Großstädten Sydney und Melbourne in Jarvis Bay an den Pazifik stellen wollte, scheiterte am entschiedenen Widerstand der Anwohner.

Die beiden kleineren Forschungsreaktoren des Landes laufen hingegen völlig ungestört. Am Südrand der Metropole Sydney geht „Lucas Heights“ mit seinen zehn Kilowatt bereits auf seinen 40. Geburtstag zu. 1958 fanden die ersten Kettenreaktionen in dem Vielzweckreaktor statt. Damals schien die Maßgabe, daß maximal 5.000 Menschen in seiner unmittelbaren Umgebung leben dürften, leicht einzuhalten. Seither hat Sydney den Reaktor eingeholt. Rund um „Lucas Heights“ herum, neben dem auch die alten Brennelemente gekühlt werden, drängen sich die Vorstadthäuser des County Sutherland.

„Lucas Heights“ steht auf historischem Grund. Nicht weit entfernt betrat im April 1770 Kapitän James Cook erstmals australischen Boden. Am Ufer verscharrte er die Leiche seines an Tuberkulose gestorbenen Seemanns Sutherland, dessen Name heute das County schmückt. Eine Miniatur von Cooks Dreimaster „Endeavour“ steht in der Glasvitrine im Eingang zum Rathaus des County.

Vom ersten Stock des Backsteinbaus aus den 60er Jahren versuchen die Ratsfrauen und -herren, das AKW in ihrer Nachbarschaft loszuwerden. „Es liegt mitten im Wohngebiet“, sagt Vizebürgermeister Ken McDonell. Ein Unfall beim Transport der Brennstäbe, bei dem Arbeiter in „Lucas Heights“ in Sekundenbruchteilen einem Großteil der zulässigen Jahreshöchstdosis an Strahlung ausgesetzt waren, hat das Mißtrauen im Rathaus noch verstärkt.

Vor zwei Jahren bestätigte ein nationaler Untersuchungsbericht, was die Betreibergesellschaft Ansto (Australian Nuclear Science and Technologie Organization) schon lange wünschte: Australien braucht einen neuen Vielzweckreaktor – zum Schulen von Experten, für medizinische Arbeiten und aus „nationalem Interesse“. Besonders letzteres Argument machte das Rathaus stutzig.

Als Präsident Jacques Chirac am 12. Juni entschied, die französischen Atomtests wiederaufzunehmen, reagierte das australische County Sutherland wie aus der Pistole geschossen. Schon wenige Tage später verabschiedeten die Ratsmitglieder einstimmig eine Resolution gegen die Tests, für einen Boykott französischer Produkte und gegen den Uranexport nach Frankreich. Seither kauft das County Sutherland keine französischen Produkte mehr ein, nimmt nicht einmal mehr französische Banken in Anspruch.

Schon lange zuvor war das Rathaus Mitglied des „nuclear free secretariat“ geworden, eines Zusammenschlusses atomwaffenfreier Gemeinden oder solcher, die es werden wollen. „Australien sollte seine gesamte Uranpolitik einstellen“, sagt Lokalpolitiker McDonnell, „und außerdem sollte es wie Neuseeland atombetriebenen Schiffen die Annäherung verbieten, auch denen von Verbündeten.“

Jahrelang blieben Sutherland und die anderen „atomwaffenfreien Gemeinden“ ziemlich allein. Dank Chirac hat sich das in den letzten Wochen geändert: Täglich drängen neue Gemeinden in das „nuclear free secretariat“.

Von der Wucht der Protestwelle sind in Australien selbst langjährige Friedenspolitiker überrascht. In Opposition zur Labour-Regierung – die sich anfänglich hinter windelweichen Erklärungen à la „es hätte schlimmer kommen können als acht Bomben“ versteckte – ging das Volk auf die Straße, bombardierte die französischen Repräsentationen mit Briefen und Faxen, initiierte den Verbraucherboykott gegen französische Produkte und hofft jetzt auf Schützenhilfe aus Frankreich und dem Rest Europas.

Auch Lester, der Mann, der als Junge in die schwarze Wolke geriet, ist heute wieder in aller Munde. Und die nächste Generation von Aborigines trägt seine Staffel weiter. Wenn sie in diesen Tagen bei den großen Protestveranstaltungen auftreten, sind sie es, die den großen historischen Bogen schlagen – von Maralinga nach Moruroa.