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Aus dem Kot aufgetaucht

Nach fast drei Wochen haben die ukrainischen Behörden die Abwasserkatastrophe in Charkow im Griff / Offiziell noch keine Cholerakranken  ■ Aus Charkow Pjotr Kowaljow

Gestern früh war es soweit. In allen Charkower Haushalten schoß wieder Wasser aus den Hähnen, und man versprach uns, daß es dabei bleiben soll: rund um die Uhr. Mehr als zwanzig Tage waren schon vergangen seit jenem verhängnisvollen Regenguß, der dem Namen unserer Stadt zusammen mit der Nachricht von einem großen Kothaufen wie eine Salve über die Welt verbreitete. In der Zwischenzeit war die Anderthalbmillionenstadt Charkow entweder völlig ohne Wasser, oder sie erhielt es – wohnviertelweise – nach einem strikten Stundenplan. Zum „Wasseraufstand“ aber kam es nicht. Dampf ließen meine MitbürgerInnen vor allem beim stundenlangen Schlangestehen an den Tankwagen vor ihren Wohnhäusern ab. Natürlich hagelte es da nicht druckreife Schimpfworte für die Regierung. Und es wurden viele Witze gerissen.

Während das Volk noch lachen konnte, wurde es den Verantwortlichen im Magistrat und im Amtskreis sowie den Mitgliedern der außerordentlichen Regierungskommission aus Kiew immer schwummeriger zumute. Zwanzig Tage lang kamen die Arbeiten an der Hauptpumpstation kaum voran.

Deren Tiefe entspricht mit vierzig Metern der Höhe eines sechzehnstöckigen Hauses. Dieser Zylinder wurde ständig von neuem durch Industrieabwässer und Fäkalien überflutet. Die Spezialtaucher der ukrainischen Flotte arbeiteten dort praktisch Tag und Nacht.

Ihre Aufgabe bestand darin, die Überflußventile des inneren Kernes abzudichten. Erst einmal aber mußten sie diese finden. Mit ihren Spezialscheinwerfern, die auf dem Grunde eines normalen Flusses viele Meter weit leuchten, konnten die Froschmänner in dieser Brühe hier gerade sieben Zentimeter weit sehen – noch nicht einmal bis zur eigenen Hand.

Die Bemühungen dieser Liquidatoren erinnerten in vielerlei Hinsicht an die Arbeit des Sisyphos. Sie kämpften buchstäblich mit dem Rücken gegen eine Wand von Kot.

Den entscheidenden Umschwung brachte in der Nacht vom Mittwoch auf Donnerstag die Montage zusätzlicher Pumpen, die die Stadtverwaltungen von Moskau und Sankt Petersburg zur Verfügung gestellt hatten. Sie können sechzehntausend Kubikmeter Abwasser pro Stunde absaugen. Danach wurden auch die letzten Ventile geschlossen. Die Station ist somit vom Wasserversorgungsnetz der Stadt abgekoppelt, kann nunmehr trockengelegt und repariert werden.

Der Unfall hat nicht nur die Umwelt um Charkow geschädigt, sondern das ganze Becken des Flüßchens Sewerski Donjez, das in den Don mündet. Eine weiter anhaltende Überflutung mit den Abwässern hätte die Selbstreinigungsfähigkeit dieses Wassersystems gefährdet. Stromabwärts am Don wären noch einmal Millionen von Menschen in ihrer Wasserversorgung gefährdet gewesen. Diese Gefahr scheint jetzt vorbei. „Die Drohung, daß sich der Charkower Unfall zu einer Katastrophe für die ganze Region auswachsen könnte, ist heute praktisch abgewendet“, verkündete Wassili Schewtschuk, Stellvertreter des ukrainischen Umweltministers und Mitglied der eigens eingesetzten Sonderkommission.

Offiziellen Analysen zufolge war das Wasser aus dem Sewerski Donez schon in den letzten Tagen nicht stärker verschmutzt als vor dem Unfall. Am Ufer hatte man zur Unterstützung des ökologischen Systems des Flusses fünfzig Stationen zum Zwecke seiner Anreicherung mit Sauerstoff errichtet. Gleichzeitig wurde Wasser aus unverschmutzten Talsperren und aus dem Dnjepr-Donbass-Kanal eingeleitet, um die Abwässer zu verdünnen.

In Charkow selbst entdeckte man unterdessen in dem Flüßchen Lopan und im Teich eines der Stadtparks Cholera-Vibrionen. Massive Milizpatrouillen sollen die BürgerInnen vom Flußufer und aus dem besagten Park fernhalten. Erkrankungen an Cholera konnten in der Stadt bisher noch nicht festgestellt werden. Aber der Chefarzt des städtischen Gesundheitsamtes berichtete, daß die Anzahl akuter Infektionen der Verdauungswege im Vergleich zum Vorjahr auf das Doppelte gestiegen sei.

Wegen vieler Darmerkrankungen waren Kindergärten und Schulen geschlossen gewesen. Und für die schlimmeren Gelbsuchterkrankungen liegt die Inkubationszeit bei mehreren Wochen. Noch liegt eine Normalisierung der Situation in Charkow in weiter Ferne.

Übersetzung Barbara Kerneck

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