Wenn Pollen aggressiv werden

Luftschadstoffe attackieren Pollen und verstärken deren allergene Wirkung. Eine neue Studie aus Österreich erklärt die Mechanismen dieses „toxisch-allergenen Doppelschlags“.  ■ Von Manfred Kriener

Als die Ärzte und Wissenschaftler am Allgemeinen Krankenhaus im österreichischen Linz die Klebestreifen aus ihrer Pollenfalle unter das Mikroskop legten, entdeckten sie sonderbare Veränderungen. Die Blütenpollen – gegen die Plagegeister sind hierzulande inzwischen 12 Millionen Menschen allergisch – hatten teilweise seltsame Risse und Eindellungen, wirkten reichlich ramponiert. Und nicht wenige Exemplare hatten kleine „Pickel“ angesetzt: winzige Klümpchen, die nur auf der Oberfläche saßen. Egal ob Gräser-, Birken-, Eichen- oder Eschenpollen, die Befunde waren im Prinzip identisch.

Die Erklärung für die Verletzungen der Pollen fanden die Forscher ebenfalls auf den Haftstreifen: Luftschadstoffe. Die Partikel aus Industrieanlagen, Auspufftöpfen und Heizungsrohren hatten die Pollen attackiert. „Die Blütenstaubkörner“, erkannten die Forscher um Herwig Schinko, „sind offenkundig während ihrer Luftverfrachtung Umwelteinflüssen ausgesetzt, die ihre Integrität beeinträchtigen und ihre Oberfläche angreifen.“ Das hat schwerwiegende Folgen: Die gestreßten Pollen sondern vermehrt Allergenklümpchen ab, Eiweißausscheidungen, die als kleine Pickel sichtbar sind. Sie werden aus der Hülle der Staubkörner über kleine Mikrokanälchen auf die Oberfläche der Pollen gedrückt. Dort bleiben sie nicht lange sitzen. Im Laufe des Lufttransports werden sie abgetrennt und schwirren dann als Miniallergene durch die Landschaft. Weil sie sehr viel leichter sind, halten sie sich länger in der Luft und werden, am Boden angekommen, auch schneller wieder aufgewirbelt.

Eingeatmet richten die Winzlinge mehr Schaden an als die Pollen selbst. Während diese mit ihrer Größe von meist 20 bis 40 Mikrometern schon in der Nase hängenbleiben, können die sehr viel kleineren Allergenklümpchen (1 bis 5 Mikrometer) eine Etage tiefer in den Bronchialtrakt eindringen. Die Pollen provozieren in der Nase bei Allergikern „nur“ den lästigen Heuschnupfen, die kleineren Allergenklümpchen können dagegen das gefürchtete Asthma auslösen. Etwa jedem dritten Heuschnupfenpatienten droht irgendwann der „Karrieresprung“ zum Asthmatiker. In der Bundesrepublik sterben schon jetzt jährlich 6.000 Menschen an Asthma. Tendenz: steigend.

Daß die Pollen im Zusammenspiel mit Giften und Industriedreck aggressiver werden und verstärkt Allergene auf ihrer Oberfläche absetzen, ist aber nur eine von mehreren Verkettungen zwischen Luftschadstoffen und Pollen. Schinko und sein Team sehen noch drei weitere Effekte einer unheilvollen Koppelung: So zeigten Messungen an verkehrsbelasteten Standorten, daß zum Beispiel die besonders lästigen Birken ihre Pollen mit einer größeren Menge des Hauptallergens Bet-v-1 aufladen als in Reinluftgebieten. Das Allergiepotential der Blütenstaubkörner steigt also deutlich an.

Schadstoffanalysen beweisen außerdem, daß die Pollen, genau wie alle anderen Pflanzenteile, an solch belasteten Standorten in erhöhtem Maße giftige Schwermetalle und andere Umweltchemikalien enthalten.

Hinzu kommt, daß in industriellen Ballungsräumen und an vielbefahrenen Straßen zeitgleich mit den Pollen auch ein Cocktail von diversen Umweltnoxen – Ozon, Schwefeldioxid, Stickoxid, Rußpartikel – von den Menschen eingeatmet wird. Teilweise sitzen diese Schadstoffe auch direkt auf den Pollen, die während ihres Lufttransports mit Feinstäuben beladen werden. Auch diese Substanzen sind mit 6 bis 10 Mikrometern Durchmesser häufig so klein, daß sie nicht in der Nase abgefangen werden, sondern – ebenso wie die Allergenklümpchen – in die Atemwege eindringen können.

All diese Effekte fassen die Forscher der österreichischen Industriestadt in einem „Synchroniemodell“ zusammen, das sie in der Fachzeitschrift Allergologie erläuterten: Allergische und giftige Stoffe treten demnach gleichzeitig (synchron) auf und verstärken sich gegenseitig. Über Luft, Boden und Pflanze werden die Pollen verändert. Gestreßter, aggressiver, allergenbeladener gelangen sie parallel mit anderen Giften in den Atemtrakt des Menschen. Ein toxisch-allergener Doppelschlag.

Das Linzer Modell könnte helfen, die alarmierend zunehmende Zahl an Allergien gegen Blütenstaub besser zu verstehen. In den letzten 50 Jahren hat sich die schniefende Schar der Pollenallergiker hierzulande etwa verzehnfacht, In diesem Frühjahr und Sommer klagten die einschlägigen Praxen über einen regelrechten Ansturm der Patienten. Da die Windblütler ihre Pollen mit männlichem Erbgut auch schon vor 100 Jahren auf dieselbe Art und Weise auf die Suche nach einer weiblichen Zelle geschickt haben, müssen also Umwelteinflüsse eine entscheidende Rolle bei der Zunahme der Allergien spielen.

Bisherige Erklärungsmodelle gingen stets von einer Vorbelastung der Atemwege durch Gift und Dreck der Industriegesellschaft aus: Diese Vorschädigung, so die These, führe zu einer gesteigerten Sensibilisierung gegen die vorhandenen Allergene. Schinko stellt diesem Ansatz jetzt sein Synchroniemodell gegenüber. Die beiden Modelle schließen sich indessen nicht aus und gehen unisono von einem fatalen Zusammenwirken von Pollen und Luftschadstoffen aus.

Sollte die weitere Forschung die Einschätzung der Österreicher bestätigen, dann dürften künftig bei extremem Pollenflug statt Nasenspray und Cortison noch ganz andere Maßnahmen notwendig werden: Fahrverbote und Tempolimit, Schongang für Industrie und Kraftwerke.