Endstation Vietnam?

■ Der ehemalige Transportarbeiter Huang Wen An lebt in einem Wohnheimzimmer in der Rhinstraße. Seit er keine Arbeit mehr hat, fürchtet er, nach Hause geschickt zu werden.

Das Lachen von Kindern schallt über den Hof. Sie haben ein schattiges Plätzchen erobert und den Nachmittag damit zugebracht, mit zwei Frauen vom „Reistrommel e.V.“ Kraniche aus buntem Papier zu falten oder zu malen. Ein kleiner Mann beobachtet das Treiben. Mehr als eine halbe Stunde schon, schier regungslos. „Wissen Sie, ich habe auch einen Jungen“, sagt er plötzlich. „Der ist fünf, aber er wohnt nicht hier.“ Was eine lange Geschichte sei, fügt der Mann lächelnd hinzu, dann greift er nach einem Stück Papier und einem Stift: „Das ist mein Name auf Chinesisch. Das ist er auf Thailändisch. So heiße ich auf Vietnamesisch, und dies ist er in Latein.“ Huang Wen An, dazu eine Zimmernummer und der Buchstabe seines Häuserblocks. „Besuchen Sie mich zum Essen. Ich unterhalte mich gern.“

Wie alle Vietnamesen in der Lichtenberger Rhinstraße erledigt Huang seinen Einkauf sozusagen vor Ort. Jeden Nachmittag, wenn sich die Hitze des Tages ein wenig gelegt hat, erwacht zwischen den Betonfassaden des Wohnheimkomplexes ein regelrechtes Markttreiben. Frauen bieten Kiwi-Limonade an, andere verkaufen für ein paar Pfennige Melonenscheiben. Gemüse, Zwiebeln, Bambussprossen dürfen nicht fehlen. Einer der Händler hat frischen Fisch aus Brandenburg im Angebot. Fette Karpfen plätschern in einem Wasserbottich, auf einer Kiste liegen Makrelen eisgekühlt. Innerhalb kürzester Zeit wird die Ware verkauft. Auf dem Einlegeboden eines Schrankes zerlegt der Händler einen Thunfisch, wiegt seinem Kunden zwei, drei Kilogramm ab. Es kämen auch Deutsche zum Einkaufen, erzählt der Mann. „Die Ware ist gut und billig, wir holen sie direkt vom Großmarkt.“ Auch Dinge, die es für die vietnamesische Küche im Supermarkt um die Ecke nicht gebe, könne man kaufen. Daß erst gestern die Polizei wieder hier gewesen ist, um dem Lebensmittelhandel einen Riegel vorzuschieben, erzählt der Händler nur ungern. „Sie kommen manchmal jeden Tag. Sagen, daß dies unhygienisch sei, was wir machen.“ Huang Wen An meint, diese Polizisten wüßten wohl nicht, daß Vietnamesen nur mit frischen Zutaten kochen. „Etwas aus der Dose oder eingefroren gibt es bei uns nicht.“ Und in deutsche Restaurants zum Eisbeinessen zu gehen könnten sich wohl nur vietnamesische Funktionäre erlauben.

Huang ist auf Jobsuche. 2.500 Vietnamesen sollen bis Jahresende aus Berlin abgeschoben werden. Laufe sein Bleiberecht aus, weil er keine Arbeit finde, sehe es sehr schlecht für ihn aus, sagt Huang. „Ich kam vor sieben Jahren als Transportarbeiter in die DDR.“ Es sei eine sehr schöne Zeit gewesen, erzählt er. Er habe damals eine deutsche Frau kennengelernt, nach ihrer Heirat und der Geburt seines Sohnes sei er mit seiner Familie in eine Neubauwohnung nach Alt-Glienicke gezogen. „Es war eine so wundervolle Wohnung, mit drei Zimmern, einem eigenen Bad!“ Doch Huangs Glück war nicht von Dauer. Als er seine Arbeit bei den Verkehrsbetrieben verlor und das Geld in der Haushaltskasse immer weniger wurde, warf ihn seine Frau hinaus.

Um dennoch die Voraussetzungen für das sogenannte Bleiberecht (Wohnraum und Arbeit) als ehemaliger Vertragsarbeiter der DDR zu erfüllen und um seinem Sohn, wie er sagt, trotzdem ein guter Vater zu sein, nahm er im vorigen Jahr einen Job bei einer polnischen Firma an. Die war damit beauftragt, Hochspannungsmasten in Ordnung zu bringen. „Harte, gefährliche Arbeit im Akkord.“ Bei Wind und Wetter sei er die Masten hinaufgeklettert. Rost kratzen von Stahlträgern, Isolatoren auswechseln. 18 Mark die Stunde konnte Huang mit allen Zuschlägen verdienen. Das sei sehr gut gewesen. Doch die Arbeit war nur auf ein paar Monate befristet.

Seitdem läuft es nicht mehr so richtig. Noch vor einiger Zeit hätten viele Firmen gern Vietnamesen beschäftigt. Fleißig und zuverlässig seien sie, hieß es. Doch schon das Hin und Her um die Bleiberechtsregelung kostete manchen seinen Arbeitsplatz: „Die Unternehmen wollten niemanden beschäftigen, der morgen oder übermorgen nach Hause zurück mußte.“ Jetzt, so Huang, bekomme er immer öfter Angebote, schwarzzuarbeiten. „Andere beschimpfen mich als Zigarettenmafia oder Fidschi.“ Fast 500 Mark zahle er an Miete für seine sechzehn Quadratmeter in der Rhinstraße – Platz für Bett, Tisch, Stuhl und Schrank. Duschen und Toiletten zur Gemeinschaftsnutzung. Am wichtigsten, sagt er, sei ihm jedoch der Unterhalt für seinen Sohn. Deshalb mache er auch einen großen Bogen um alles, was mit dem Zigarettenschmuggel zu tun haben könnte.

Tang, einer von Huangs Bekannten, erzählt, daß er nach den Morden im Mai sogar mit dem Rauchen aufgehört habe, nur damit er nicht in den Verdacht gerate, Zigarettenhändler zu sein. Auch Tang sucht Arbeit. Mittlerweile redet er davon, nach Magdeburg zu ziehen. Dort könnten jetzt alle einstigen Vertragsarbeiter Arbeit finden. „Derjenige, der ihnen Arbeit gibt, bekommt als Belohnung Geld, soviel wie deine Sozialhilfe“, schwärmt Tang. Doch der gelernte Lokomotivbauer Tang hat inzwischen viele Freunde in Berlin. Wegzuziehen würde ihm schwerfallen, die Gruppe zum Kartenspielen oder zum Reden würde ihm fehlen.

„Die Gemeinschaft ist mir sehr wichtig. Da kann man sich gegenseitig helfen. Viele von uns sprechen noch sehr schlecht Deutsch.“ Dennoch wird auch Tang spätestens Ende dieses Jahres vor der Entscheidung stehen, sich eine eigene Wohnung zu suchen oder in ein anderes Heim umzuziehen. Bis zum 31.12. wird die Betreiberin der Heime, die Arwobau, die Unterkünfte in der Rhinstraße auflösen. Lediglich die Wohnheime in der Gehrenseestraße, so der Ausländerbeauftragte der Arwobau, Günter Neubert, werden die nächsten sechs bis acht Jahre bestehen können.

Seit in allen Häusern ein Wachschutz eingerichtet wurde, habe sich die Situation dort entspannt. Nur noch gegen die Vorlage einer Hauskarte werde den Bewohnern ihr Schlüssel ausgehändigt. Besuche seien nur dann möglich, wenn dies der entsprechende Mieter auch wünsche. „Die Zigarettenmafia bleibt außen vor, und für uns lohnt es sich bei einer Belegung der Häuser mit 120 statt mit 500 Leuten wieder, die Gebäude zu modernisieren.“ Die menschenunwürdigen Sanitärräume sollen neu gestaltet, eine zweite Küche in jeder Etage soll eingerichtet werden. Selbst einen Klubraum pro Haus und legalisierte Lebensmittelgeschäfte stellt sich Neubert vor.

Für Huang sind alle Massenunterkünfte gleich schlecht. Es ist ihm egal, ob dort jetzt grundlegend renoviert wird. Er ist nicht mehr der Jüngste, und er sehnt sich nach einer kleinen Wohnung, wo er kommen und gehen kann, wann er möchte; die nicht nach Belieben von Polizeibeamten heimgesucht wird und in der er jederzeit seinen Sohn empfangen kann. „Zukunftsmusik“, winkt er ab. Erst einmal müsse er jetzt Arbeit finden.

In Vietnam, sagt Huang, wäre ein solches Unterfangen für ihn allerdings völlig aussichtslos. „Sie haben nicht erkannt, daß ich kein echter Vietnamese bin, nicht wahr? Meine Mutter war Thailänderin, mein Vater Chinese.“ Huangs Familie lebte in einem kleinen Bergdorf nahe der chinesischen Grenze. „Bis ich in die Schule kam, konnte ich kein einziges Wort Vietnamesisch.“

Daß Angehörige ethnischer Minderheiten nach wie vor unterprivilegiert sind, erfuhr auch Tamara Hentschel vom „Reistrommel e.V.“, als sie kürzlich sechs Wochen lang in Vietnam unterwegs war. Mit viel Geld könne man sich zwar gewisse Freiheiten erkaufen, „doch wenn du Angehöriger einer ethnischen Minderheit bist und aufgrund deines langen Auslandsaufenthaltes auch noch als republikflüchtig giltst, wirst du strafrechtlich verfolgt, was mindestens drei Jahre Umerziehungslager bedeuten kann“. Sie habe, so Tamara Hentschel, bei ihrem Besuch in Vietnam selbst im Büro eines ehemaligen Vertragsarbeiters gesessen, der in sein Heimatland zurückgekehrt und dort als Anwalt tätig ist. „Er hat mir mehrere Fälle gezeigt, in denen Heimkehrer zu Umerziehungsmaßnahmen verurteilt wurden.“ Über ihre Erlebnisse habe sie bereits das UN- Flüchtlingskommissariat informiert.

Um eventuellen Repressalien bei ihrer Heimkehr aus dem Weg zu gehen, so Tamara Hentschel, versuchten viele VietnamesInnen derzeit, illegal zurückzukehren. Einigen sei das Sich-nach-Vietnam- zurückschleppen-Lassen dabei offenbar bereits zum Verhängnis geworden. In Hanoi kursiere das Gerücht, daß etwa 60 Personen unter anderem in der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh vom vietnamesischen Geheimdienst festgenommen worden seien. „Das klingt alles noch sehr vage, doch es gibt Hinweise, daß Angehörige einiger Verhafteter hier in Berliner Wohnheimen leben. Diese versuchen wir momentan ausfindig zu machen.“

Huang Wen An ist erschüttert. Er selbst ist in den letzten sieben Jahren nicht mehr in Vietnam gewesen. Die Schilderungen Tamara Hentschels in Sachen Korruption möchte er kaum glauben. „Wer weiß, was dann mit dem vielen Geld geschieht, das Deutschland für die Rückkehrer bezahlt?“ fragt Tang zaghaft in die Runde. „Ja, wer weiß“, fragt auch Huang, „wie schwer es dann erst werden wird, Besuch von einem kleinen deutschen Jungen zu bekommen?“ Kathi Seefeld