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"Blavatzkys Kinder" - Teil 10 (Krimi)

Teil 10

„Können Sie mir das übersetzen?“

„Sieht aus wie Rumänisch.“ Er schüttelte bedauernd den Kopf.

„Versuchen Sie es an der Rezeption.“

Der Barmann schob Curtis Mayfield in den CD-Player.

„Kann ich dir helfen?“

Miriam bewegte rasch ihren Kopf. Der Zeitungsleser. Er war knapp so groß wie sie, dunkelblond, helle Augen in einer undefinierbaren Farbe und trug einen grauen Sweater. Seine Augen standen leicht schräg. Er lächelte.

Sie hielt ihm wortlos den Zettel hin.

„Rumänisch. Soll ich übersetzen?“

„Kluge Frage.“

„Da steht: ,Sie haben mein Kind gestohlen. Bitte helfen Sie mir!‘ Verarschst du die Leute, oder ist das echt?“

Das war es also. Deshalb war die fremde kleine Frau so furchtbar aufgeregt gewesen.

„Woher hast du den Zettel?“

„Von einer Frau.“

„Wir sollten reden.“

„Meinetwegen.“

Der Barkeeper wechselte die CD: John Lee Hooker. Miriam bemerkte es zu seinem Bedauern nicht.

Robert sah sich einem Kreuzfeuer ausgesetzt. Nachname? McLeod. Wie buchstabiert man das? Aha. Woher kommst du? Hamburg. In Altona heißen viele McLeod? Mein Vater ist Schotte, meine Mutter Deutsche, weil... Was machst du? Studium beendet. Was? Slawistik und Geschichte. Und jetzt? Freier Journalist, schreibe kleine Geschichten für mich, mache Musik. Robert paßte sich dem ungeduldigen Rhythmus ihrer Fragen an. Was für Artikel? Kultur, Kommunalpolitik. Zeitung? Lokales Mistblatt, Boulevardblatt, nennt sich eine Tageszeitung. Was für Musik? Saxophon. Nicht das Instrument, die Musik! Jazz, Blues, Rock.

Er beobachtete ihre Augen. Prüfung bestanden, schloß er voreilig.

„Liest du?“

„Beckett, Sinclair, Marsipulami.“

„So'n Scheiß“, befand sie.

„Beckett?“ hakte er scheinheilig nach.

Er schien keine festen Pläne zu haben. Als Miriam ihn zu ihrer eigenen Überraschung fragte, ob er ihr am folgenden Tag helfen würde, die Frau zu finden und die Angelegenheit zu klären, erhob er keine Einwände.

Sie gingen zum Westbahnhof, um die Verfasserin des Zettels zu suchen. Im Tageslicht hätte sie das Gebäude beinahe nicht wiedererkannt. Unter blauem Himmel und in der Sonne schien der alte Bahnhof nur Angenehmes zu beherbergen: die Möglichkeit zu verreisen, Freunde vom Zug abzuholen, einzukaufen, herumzuschlendern.

Die Bänke und der Fußboden des Wartesaals waren so gründlich geschrubbt, als hätte man Menschen ohne Wohnsitz wegspülen wollen. Sie muß hier sein. Warum hätte sie mir sonst den Zettel gegeben? dachte Miriam. Sie suchten überall. An allen Eingängen, auf dem Platz vor dem Bahnhof, an den Kiosken, auf den Toiletten, bei den Mülltonnen, in jedem Winkel.

Als sie schon aufgeben wollten, bewegte sich etwas unter einer Treppe. Die beiden Frauen hatten die Touristen nicht kommen sehen und erschraken.

Miriam und Robert gingen in die Hocke.

„Hallo“, sagte Miriam. Robert grüßte auf Rumänisch.

„Er kann mich verstehen!“ sagte die junge Frau zur Alten. „Hörst du, er kann unsere Sprache.“

„Ach, das ist alles nutzlos“, murmelte die Alte. Die junge Frau hörte nicht hin. Nein, die Alte hatte diesmal nicht recht. Der blonde Mann sprach ein merkwürdiges Rumänisch, aber sie konnte es verstehen. Er sollte alles erfahren.

„Nein“, protestierte die alte Frau. „Sie dürfen sich nicht zu uns setzen. Dann kommt die Polizei wieder. Geh mit ihnen irgendwohin. Erzähl ihnen alles. Es nützt nichts, aber schaden kann es auch nicht.“

Anthrazitfarbene Wolken zogen vom Westen her über die Stadt. Sie hatten sich geeinigt, ins Hotel zu gehen, um in Ruhe über alles zu reden. Noch regnete es nicht, und sie gingen zu Fuß. Auf dem Bürgersteig drängten sich Einkäufer und Touristen. Die kleine Frau blieb davon unbeeindruckt. Sie wollte nicht warten und begann zu erzählen. Robert übersetzte, während er sich neben ihr durch den Verkehr schlängelte.

„Ich heiße Soliza und komme aus Rumänien. Ich bin eine Roma, neunzehn Jahre alt. Man hat mir meinen kleinen Sohn Rjako geraubt. Der Mann, den die Frau gestern abend verjagt hat, ist ein Bekannter des Mannes, der mein Kind gestohlen hat. Ich bin seit vielen Wochen auf der Suche nach ihm. Ich habe Angst, daß ich mein Kind für immer verloren habe.“

Fortsetzung folgt

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