piwik no script img

Eine aussterbende Gattung

■ Arm und Reich trennen sich heute effektiver als früher: Hörspielproduktionen als Beispiel für Pressefreiheit nach dem Zerfall der Blöcke. Ein Kongreßbericht aus Bred

Die European Broadcasting Union (EBU) veranstaltet alle zwei bis drei Jahre Treffen für ihre Hörspielexperten, die für die öffentlichen Radioanstalten Hörspiele aller Art herstellen – von abstrakten Klängen bis zur Seifenoper. Die Zusammenkunft von 1989, veranstaltet von der RAI, dem italienischen Staatsrundfunk, begann in Florenz am gleichen Wochenende, als in Berlin die Mauer fiel. Für die Radioleute aus Osteuropa sollte sich damit schnell alles ändern. Marton Mesterhazy von Magyar Radio machte bei der abschließenden Plenarsitzung aus seinem Herzen keine Mördergrube. „Wir Hörspielleute“, sagte er, „hatten unsere kleinen Revolutionen in den siebziger Jahren, als die Zensur politische Hörspiele mundtot machte. Die Zensur wird verschwinden, sobald die Wirtschaftskrise kommt.“ Denn dann werde, so fuhr er fort, kein Geld mehr für Theater, Musik, Bücher oder Fernsehen dasein.

„Wir Radioleute sollten eine letzte Bastion der Kultur verteidigen.“ Aber wo, fragte er, solle das Geld herkommen? Angesichts heruntergekommener Studios und erstmals unter dem Konkurrenzdruck privater Radioanstalten müßten die Sender auf billige Programme mit Massenwirkung setzen. Nötig, meinte er, seien nicht Millionenkredite, sondern intellektuelle Zusammenarbeit und Unterstützung. Kurz darauf gab die EBU bekannt, sie habe eine engere Zusammenarbeit mit OIRT begonnen, der Parallelorganisation in Osteuropa. Zum Zeitpunkt des nächsten Treffens, 1992 in Edinburg, veranstaltet von der BBC, fand die Kooperation bereits vor dem Hintergrund der zerfallenden alten politischen Ordnung in Rußland und Jugoslawien statt, während sich zugleich die Radioarbeit überall auf der Welt in verwirrender Geschwindigkeit wandelte. Das jüngste Treffen fand dann im Juni in Bled statt, Ausrichter war RTV Slowenien; begrüßt wurden zum ersten Mal auch Delegierte aus Rußland, Estland, Bulgarien, Polen, der Slowakei, Makedonien und den Radiosendern des ehemaligen Ostdeutschland. Die Probleme, vor denen Marton Mesterhazy 1989 gewarnt hatte, waren sämtlich Realität geworden. Gillian Reynolds

Marton Mesterhazy führte über das Treffen Tagebuch:

Ein sprichwörtlich schöner Alpensee, ein gutes Hotel, gutorganisierte Abendprogramme, und am Tage die Konferenz der Hörspielmacher; eine kleine Armee im Belagerungszustand. Die neue Mauer – besonders auffällig nach dem ersten Tag –, sie trennt Reich und Arm effektiver als die alte. Daniela und Dmitri halten es für unmöglich, einem ausländischen Autor 500 US-Dollar zu zahlen. (Das ist ein normales, angemessenes Honorar.) Ihren eigenen Autoren gewähren sie das „Äquivalent“ von 25 bis 100 US-Dollar in ihren nach wie vor unkonvertierbaren Ost- Währungen. Marje-Maris Abteilung hat bereits einen fünfzigprozentigen Personalabbau hinter sich; jetzt will die neue Regierung den gesamten öffentlichen Rundfunk privatisieren: „Es kostet zuviel.“

Die Etatkürzungen: Vor einigen Jahren schienen die Hörspielleute auf der anderen Seite der Mauer in beneidenswerter Bequemlichkeit zu leben. Nun tobt überall der Terror der Rationalisierungsfachleute. In Johns Abteilung wurde der Literaturredakteur abgeschafft, damit die Sendungen billiger und massenwirksamer werden. In Stefans Abteilung wurden wegen Etatüberschreitung die Mittel gekürzt; Personalabbau ist im Gang; er hat gekündigt. Martins Abteilung erlebte eine fünfzigprozentige Stellenkürzung. Laurences Verwaltung will das Hörspiel disziplinieren, indem es einer Haupt- Abteilung zugeschlagen wird. Und Janes Verwaltung hat beschlossen, daß ein Produktionsteam weder einen Literatur- noch Musikredakteur braucht.

Technologisch gesehen wird der Unterschied zwischen unseren beiden Gruppen am deutlichsten, als es Digitalisierung geht. Nehmen wir die Dokumentation meiner Abteilung: Die besteht noch immer aus einem mit Umschlägen vollgestopften Schrank und dem Gedächtnis der alten Kollegen. Eine „aussterbende Gattung“: Heroisch müht sie sich weiter ab, unter absurden Bedingungen.

Vor diesem Hintergrund vernahmen wir den Beitrag eines blinden belgischen Hörers, ein vierzigjähriger Anwalt mit feinem Humor. Er berät blinde Landsleute juristisch, als Hobby zeichnet er Hörspiele aus Belgien und seinen vier Nachbarländern auf. Tausende hat er auf Band, die Dokumentation ist auf seinem Braille- Computer gespeichert. Er klagt, daß die Hörspiele seltener werden und schwerer zu finden sind, wegen mangelnder Sendezeit und schlechter Information. Aber er glaubt an die Zukunft des Genres: Die Leute brauchen in dieser verrückten Welt richtige Unterhaltung und Erholung. Bedarf diese Erklärung noch eines Kommentars?

Bei der Eröffnung der Konferenz erklärte der Kultusminister Sloweniens, seine Regierung habe nicht die Absicht, die slowenische Kultur zu gefährden; sie wolle sie als Teil der Zukunft der Nation beschützen; statt sich zurückzuziehen, werde der Staat seine finanzielle Beteiligung, ja Dominanz auf diesem Gebiet beibehalten. Allerdings scheint dieses höchst ehrenwerte (und für einen Ungarn beneidenswerte) Streben eines Patriotismus aus dem 19. Jahrhundert langfristig kaum durchzuhalten. Und manche Kollegen versicherten mir später, diese Erklärung sei mit gewissen Abstrichen aufzunehmen. Jedenfalls verfügt die belagerte Armee nicht über Patrioten des 19. Jahrhunderts, die zu ihrem Schutz herbeieilen.

Eine Option ist der Kampf. So viele der beleidigten, verletzten Menschen wollten ihren eigenen Ängsten trotzen: Kämpft gegen die Bosse um Programmförderung und Finanzierung, klärt eure Sendeleitung auf, erzieht sie um, gewinnt als neue Hörer die Verwalter eures Senders, die Verteiler der öffentlichen Mittel, argumentiert, überzeugt, demonstriert, besorgt euch Verbündete in den Sendern und außerhalb!

Die andere Option, am klarsten vertreten von Damiano, liegt in der Anpassung. Er haßt den Terror der neubekehrten Rationalisierer, aber er sieht ihn langfristig: nicht als momentanes Wetter, sondern als Klima. Besser sollte man lernen, damit zu leben, die Etat- und Personalkürzungen hinzunehmen, um die Studios und das Genre zu retten, und den „Experten“ in ihrer eigenen Sprache beweisen, daß man sowohl effektiv als auch populär sein kann; daran erinnern, daß das Hörspiel innerhalb des Rundfunks mehr Feinde hat als draußen, sich also den Kollegen im Fernsehen, in der Presse, in anderen Abteilungen des Radios in Erinnerung bringen (und für gelegentlichen Widerstand auch ihre Solidarität gewinnen). Beide Positionen stehen sich nicht diametral gegenüber. Und beide münden in den gleichen Ratschlag, das imperative Gebot für die kleine Armee von Hörspielproduzenten im Belagerungszustand: Macht gute Programme, von denen ihr überzeugt seid!

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen