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Knast in Haiti: Sachzwänge des Elends

Zwar sind die brutalen Wärter aus dem Nationalgefängnis verschwunden, die zu Putschzeiten die Insassen verprügelten, doch die Haftbedingungen sind noch immer erbärmlich  ■ Aus Port-au-Prince Ralf Leonhard

Die Abfertigung der Besucherinnen des Nationalgefängnisses in Haitis Hauptstadt Port-au-Prince – es sind fast ausschließlich Frauen – geht relativ zügig voran. Sie müssen vor den Augen eines Wärters vom Essen kosten, das sie mitbringen, und sich kurz abklopfen lassen. Dann stochert der Wärter noch im Eßgeschirr, um sicher zu gehen, daß keine Waffen darin eingeschmuggelt werden. Die Warteschlange ist kurz. Denn Besuch bekommt nur eine kleine Minderheit der 709 Inhaftierten, die Direktor Percy, ein ehemaliger Armeeleutnant, registriert hat.

Im ersten Hof, von dessen Wänden das imperiale Gelb längst abgeblättert ist, sitzen mehrere Gruppen Gefangener im Schatten eines riesigen Baumes. Ein paar GIs in Felduniform und blauen Helmen laufen herum. Bei ihnen muß man die Erlaubnis für den Rundgang einholen.

Während des Putschregimes war das Nationalgefängnis in Port- au-Prince eine soziale Müllhalde. Wer dort landete, sei es aus politischen Gründen oder als Autoknacker, konnte sich wenig Chancen ausrechnen, einen fairen Prozeß zu bekommen. Wer kein Geld hatte, Richter oder Wärter zu bestechen, der ging dort zugrunde. Nicht einmal die Ernährung der Häftlinge war im Haushalt vorgesehen – dafür mußten die Verwandten sorgen.

Nach der Invasion der USA im September 1994 wurden die Häftlinge von den Besatzungstruppen durchgefüttert. Seit die Vereinten Nationen Ende März das Kommando übernahmen, wird die Verpflegung über das Justizministerium kanalisiert. Doch noch immer sind die verheerenden Bedingungen gelegentlich Anlaß für Revolten, die die Sache nicht besser machen. Bei einer Meuterei Anfang Mai warfen die Gefangenen die wenigen vorhandenen Lampen ein. Das Dach einer Zelle war schon vorher in Flammen aufgegangen.

Ein Gefangener, der erklärt, aus Angst vor Repressalien seinen Namen nicht nennen zu wollen, aber keine Scheu vor Kamera und Mikrophon hat, beschwert sich über den Klassenunterschied zwischen den gemeinen und den politischen Gefangenen, den ehemaligen Schergen der Diktatur: „Wir haben kein Fließwasser und kein Licht. Die Macoutes dürfen jeden Tag telephonieren, sie sprechen stundenlang mit ihren Frauen und Anwälten. Wir haben nicht einmal Toiletten oder eine Dusche. Frühstück gibt es auch nicht.“

Die Militärs der US-Armee, die untertags für die Sicherheit sorgen, haben sich an derartige Klagen gewöhnt. Wenn sie einmal den nationalen Kontext kennen, zucken sie nur mehr die Schulter, wie ein junger Soldat aus North Carolina, der wenig Mitgefühl hegt: Im Gefängnis gehe es den Leuten auch nicht viel schlechter als denen auf der Straße, die keine Verbrechen begangen haben: „Wenn sie rauskommen, dann greifen sie sich schnell wo eine Machete, hacken jemanden zu Tode und sind am nächsten Tag wieder hier.“

Tatsächlich aber haben die Häftlinge in einem Kritikpunkt Recht: Während im einen Trakt Mörder mit Trickbetrügern und Taschendieben ohne Wasser und hygienische Einrichtungen zu Hunderten zusammengepfercht werden, leben die ehemaligen Militärs in relativem Luxus. Sie teilen sich Zellen zu dritt, können den ganzen Tag in ihrem Hof im Schatten eines Mangobaums liegen, bekommen reichlich Wasser und dürfen das Telefon benützen. Ihre Lektüre ist rein erbaulicher Natur, wie eine französische Ausgabe der Apostelgeschichte, die demonstrativ auf einem Wasserkanister liegt, wohl belegen soll.

Ungerecht behandelt fühlen sie sich trotzdem, wie Costera Cenafils, der ehemalige Kommandant der Kaserne von Gonaives, der im April des Vorjahres ein Massaker befehligte, das nach Ermittlungen der Menschenrechtsorganisationen über 20 Zivilisten das Leben kostete. Cenafils, der eine dicke Goldkette um den Hals trägt, sieht keinen triftigen Anlaß für seine Festnahme. „Terroristen“ hätten den Vorposten im Stadtteil Raboteau beschossen und die Soldaten lediglich „das Feuer erwidert“.

Die Privilegien dieser Leute werden inoffiziell mit der Versöhnungspolitik gerechtfertigt und mit dem Hinweis, daß sie früher oder später wieder freikommen. Da sie über Einfluß und Geld verfügen, könnten sie sich dann für schlechte Behandlung rächen.

Fast alle klagen, sie säßen seit Wochen oder Monaten im Knast, ohne je einen Richter zu Gesicht bekommen zu haben. „Ein echtes Problem“, gibt Erica Johnson von der UN-Mission für Menschenrechte (MICIVIH) zu. Die meisten seien zwar der Form halber vor ein Gericht geschleppt worden – aber die Verhandlung ging dann als Pauschalveranstaltung über die Bühne: „Viele haben gar nicht mitgekriegt, daß sie dort waren.“ Das Problem ist nicht lösbar, solange das gesamte Justizsystem nicht grundlegend reformiert wird. Korrupte, völlig überlastete und zum Teil unzureichend ausgebildete Richter haben keine Zeit, sich mit jedem Hühnerdieb auseinanderzusetzen. So passiert es eben, daß ein Hühnerdieb drei Jahre ohne Urteil hinter Gittern sitzt.

Immerhin wird an der Verbesserung der Haftbedingungen gearbeitet. Zwar vegetieren noch immer Hunderte Sträflinge in einer Art Viehstall im eigenen Dreck vor sich hin. Aber die brutalen Wärter, die immer wieder mit dem Prügel zuschlugen, sind seit der Rückkehr zur Demokratie und der Trennung des Gefängniswesens von der Armee verschwunden. Wirklich fachkundiges Aufsichtspersonal fehlt allerdings noch immer.

Unter der Anleitung französischer Experten werden jetzt in der alten Marinebasis von Carrefour Strafvollzugsbeamte mit einer neuen Mentalität ausgebildet. Die Versöhnungspolitik ist dort gelebter Alltag. Denn Aktivistinnen der Lavalas-Bewegung Präsident Aristides, wie die 26jährige Cecile Dominique, drücken die Schulbank gemeinsam mit ehemaligen Militärs wie Benjamin Dieufort, die von Menschenrechten bisher nicht viel gehalten hatten.

„Wir lernen, daß man die Gefangenen nicht demütigen darf, daß die Menschenrechte beachtet werden müssen“, doziert Cecile: „Wir müssen sehen, daß die Häftlinge nicht krank werden, wir sollen sie lieben.“

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