: „Auf einer Stufe mit den Barbaren“
In den USA haben Veteranenverbände mehr politischen Einfluß als Historiker. Deshalb wurde eine kritische Ausstellung zum 50. Jahrestag des Atombombenabwurfs über Hiroshima abgesetzt. Aber der Streit geht weiter. ■ Aus Washington Andrea Böhm
Wer sich, wie die meisten Touristen in Washington, auf den Weg ins „National Air and Space Museum“ macht, der geht nicht nur einfach in ein Museum. Er betritt einen Tempel des amerikanischen Pioniergeistes, in dem noch der Glaube an das Grenzenlose erhalten wird – mit viel Sinn für Unterhaltung natürlich. Im „National Air and Space Museum“ künden die Ausstellungsstücke von vergangenen Heldentaten und verheißen weitere Entdeckungen und Expeditionen. Hier quetschen sich aufgeregte Kinder in einen Abschnitt des Raumfahrtlabors „Skylab“ oder sehen sich auf dem Videoschirm Luftkämpfe im Zweiten Weltkrieg an; hier stehen Modelle amerikanischer und russischer Interkontinentalraketen einträchtig nebeneinander. Ein paar Schritte weiter ist die Marssonde „Viking“ zu bestaunen. Angesichts des unaufhaltsamen technologischen Fortschritts im Weltall werden irdische politische Konflikte eben klein und vergänglich.
Wer in das nationale Luft- und Raumfahrtmuseum kommt, schrieb vor kurzem der Kolumnist Joel Achenbach in der Washington Post, wolle eine gute Show sehen, „keine akademische Analyse der Supermacht-Diplomatie und der Rolle des militärisch-industriellen Komplexes“. Vielleicht war es also von Anfang an keine gute Idee, ausgerechnet in diesem Museum den Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki kritisch untersuchen zu wollen.
Nun beschäftigt das „Smithsonian Institute“, dem das „National Air and Space Museum“ untersteht, eine ganze Reihe von Akademikern, die keineswegs nur „eine gute Show“ für Touristen bieten wollen. Deshalb begann man vor mehreren Jahren eine Ausstellung über den 50. Jahrestag des Atombombenabwurfs auf Hiroshima und Nagasaki und das Ende des Zweiten Weltkriegs zu planen. Groß sollte sie werden – und kritisch. „Das Museum hofft“, so hieß es in einem Vorbereitungspapier aus dem Jahre 1993, „durch die Ausstellung zu einer gründlicheren Diskussion des Atombombeneinsatzes beizutragen – in den USA, Japan und anderswo“.
Man wollte Kamikazeflugzeuge, Modelle der Atombomben und den restaurierten Rumpf der „Enola Gay“ zeigen, des Flugzeuges also, von dem aus die Bombe abgeworfen wurde; daneben aber auch Informationen bieten über den Luftkrieg im Pazifik, über Signale aus Japan noch vor dem 6. August, den Krieg zu beenden; Filme mit den Aussagen von Überlebenden – und Fotos von Uhren aus Hiroshima, die an jenem Morgen des 6. August 1945 um 8.15 Uhr stehengeblieben waren. Soviel zu der Ausstellung, die nicht eröffnet wurde.
Am 30. Januar 1995 stoppte der Leiter des „Smithsonian Institute“, Michael Heyman, nach monatelangen Auseinandersetzungen mit Veteranenverbänden und Republikanern einerseits und Friedensgruppen und „revisionistischen“ Historikern andererseits alle weiteren Vorbereitungen. Es war der Druck von konservativer Seite, der das Projekt verhinderte. Die Republikaner drohten unverhohlen mit der Kürzung staatlicher Zuschüsse für das „Smithsonian Institute“, Kriegsveteranen mobilisierten gegen die Ausbreitung von political correctness im nationalen Luft- und Raumfahrtmuseum, mit der die USA in die Rolle des Täters und Japan in die Rolle des Opfers gepreßt würde. Museumsmitarbeiter hätten höchst fragwürdige Informationen in die Ausstellung mit einbezogen, die die Moralität und die Motive Präsident Harry Trumans bei seinem Entschluß in Frage stellten, den Krieg durch den Abwurf der Atombombe schnell zu beenden, schrieb William Detweiler, der „National Commander of the American Legion“ im Januar an US-Präsident Clinton. Um den Krieg im Pazifik zu beenden, so der feste Glaube Detweilers, hätte es außer dem Einsatz der Atombombe nur eine Alternative gegeben: die Landung amerikanischer Truppen auf den japanischen Inseln, die nach damals in der Öffentlichkeit verbreiteten Schätzungen rund 250.000 US-Soldaten das Leben gekostet hätte. – Diese These ist in den Augen vieler Historiker unhaltbar, in den Augen der Veteranenverbände unantastbar. Veteranenverbände aber haben in den USA eindeutig mehr politischen Einfluß als Historiker. Also erklärte Heyman im Januar reumütig in aller Öffentlichkeit, daß „es ein grundlegender Fehler war, eine historische Auseinandersetzung über den Einsatz von Atomwaffen mit dem 50. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges verknüpfen zu wollen“.
Es wurde nun eine andere Ausstellung im Luft- und Raumfahrtmuseum eröffnet. Sie trägt den unverfänglicheren Titel „Enola Gay Exhibition“. Hauptattraktionen sind der Rumpf des Flugzeugs und ein Modell der Bombe „Little Boy“. Rundherum werden Informationstafeln über die technischen Vorzüge des B-29-Kampfflugzeuges und über die handwerklichen Fähigkeiten der Museumsrestauratoren präsentiert. Keine Bilder aus Hiroshima oder Nagasaki, kein Hinweis auf die Anzahl der Toten oder die Strahlenfolgen der Bombe. Dafür am Ein- und Ausgang ein Video, in dem die Besatzung der „Enola Gay“ unter Colonel Paul Tibbets noch einmal ihre Sicht der Dinge darlegt: daß die Japaner einfach nicht aufgeben wollten; daß es eine höchst komplizierte Angelegenheit war, eine so schwere Bombe zielsicher abzuwerfen; daß man Hiroshima aufgrund seiner Rüstungsindustrie als Ziel ausgewählt habe; daß alle sich über die Bedeutung ihres Einsatzes im klaren waren. Unerwähnt bleiben die Worte, die Kopilot Robert Lewis unmittelbar nach dem Anblick des Atompilzes über Hiroshima in sein Tagebuch schrieb: „Mein Gott, was haben wir getan?“
Die Folgen der beiden Atombombenabwürfe sind hinreichend beschrieben worden: Die Atombombe auf Hiroshima tötete 70.000 Menschen unmittelbar; 50.000 starben in den nächsten Monaten an Verbrennungen und Verstrahlungen. In Nagasaki kamen am 9. August 1945 weitere 70.000 Menschen um. Es war eine Serie von weiteren Atombombenabwürfen geplant. Doch Japan, in einem Zustand vollkommenen Schocks, kapitulierte am 14. August. In den USA und auf den amerikanischen Stützpunkten im Pazifik brach unbeschreiblicher Jubel los. Entsetzen über die Folgen der Atombomben war kaum zu vernehmen. Zum einen fehlten konkrete Informationen, zum anderen war man durchaus in Rachestimmung: Der Schock über den Überraschungsangriff Japans auf Pearl Harbor saß ebenso tief wie die Wut über den „Bataan Todesmarsch“ und die Fotos amerikanischer Kriegsgefangener kurz vor der Enthauptung durch japanische Soldaten. „Die Japaner sind Wilde, unbarmherzig und gnadenlos fanatisch“, hatte US-Präsident Truman in seinem Tagebuch notiert. So wie er dachte damals die Mehrheit der Amerikaner.
Im Mittelpunkt der gegenwärtigen Debatte steht nicht mehr nur die Frage nach der Moralität der Entscheidung, die Atombombe einzusetzen, sondern die Frage nach den politischen und militärischen Motiven der Truman-Administration. Pünktlich zum 50. Jahrestag ist eine Reihe von Büchern erschienen, in denen ein amerikanischer Historikerstreit ausgetragen wird. Da ist zum einen Ronald Takaki, der in seinem „Hiroshima: Why America Dropped The Atomic Bomb“ die These aufstellt, Truman habe sich aus rassistischen Motiven und aus Angst, als Weichling zu gelten, für den Bombenabwurf entschieden. Da ist auf der anderen Seite das 700-Seiten- Werk „The Last Great Victory“ des US-Historikers Stanley Weintraub, der den Einsatz der Atombombe für notwendig erklärt, weil im Fall einer Invasion der USA in Japan weit mehr Menschen auf beiden Seiten ums Leben gekommen wären. Außerdem seien die USA mit dem Nuklearschlag einer sowjetischen Intervention zuvorgekommen, die Japan dasselbe Schicksal wie Deutschland beschert hätte: die Teilung.
Ende der Woche schließlich wird der Historiker und ehemalige Mitarbeiter des US-Außenministeriums, Gar Alperovitz, sein Buch „The Decision To Use The Atomic Bomb“ vorstellen – die bislang wohl detaillierteste Demontage des Mythos, Truman habe mit dem Atombombeneinsatz ein kapitulationsunwilliges Japan zur Aufgabe zwingen und die bereits für November geplante Invasion durch amerikanische Truppen überflüssig machen wollen. Es sei Truman, so Alperovitz, nicht mehr primär um Japan gegangen. Vielmehr habe er die Sowjetunion im allgemeinen einschüchtern und im besonderen davon abhalten wollen, den USA geopolitische Konkurrenz in Asien zu machen.
Diese These ist nicht neu. Alperovitz selbst hat sie zum erstenmal 1965 in seinem Buch „Atomic Diplomacy: Hiroshima and Potsdam“ vertreten. Dieses Mal allerdings präsentiert er Quellen, wonach Truman lange vor dem 6. August 1945 wußte, daß die japanische Regierung und der Kaiser bereit waren, den Krieg zu beenden, und Friedensverhandlungen wollten. Demgegenüber stand die Forderung der Alliierten nach „bedingungsloser Kapitulation“, was für Japan wiederum die inakzeptable Möglichkeit beinhaltete, daß Kaiser Hirohito vom Thron gestürzt und als Kriegsverbrecher verurteilt werden würde. Mehrere Mitglieder der zivilen und militärischen US-Führung, darunter Kriegsminister Henry Stimson, der Generalstabschef des Präsidenten, Admiral William Leahy, und der Generalstabschef des Heeres, George Marshall, schlugen deshalb im Juni und Juli 1945 vor, die Forderung nach „bedingungsloser Kapitulation“ mit der Garantie zu versehen, daß der Kaiser weiterhin auf seinem Thron bleiben werde. Kombiniert mit der Aussicht auf einen Zwei-Fronten-Krieg gegen die westlichen Alliierten und die Sowjetunion, müßte dies, so Marshall, ausreichen, um Japan zur Kapitulation zu bewegen.
Doch der Versuch, eine entsprechende Sicherheitsgarantie für den Kaiser zu formulieren, zog sich ohne ersichtliche Gründe über Wochen hin, in denen weiter gekämpft, gebombt und gestorben wurde. Die Verzögerungstaktik Trumans, glaubt Alperovitz, hatte jedoch einen triftigen Grund: Im Weißen Haus wartete man ungeduldig auf die Ergebnisse des ersten Atomwaffentests in der Wüste von New Mexico. – Die Meldung vom erfolgreichen Test kam am 16. Juli 1945, als Truman und US-Außenminister Jimmy Byrnes, Trumans Mentor aus früheren Tagen, bereits in Potsdam zur Konferenz der Siegermächte über die Zukunft Deutschlands eingetroffen waren, die bezeichnenderweise am folgenden Tag eröffnet wurde.
Das „Manhattan Project“ unter der militärischen Leitung des „Atomgenerals“ Leslie Groves und unter der wissenschaftlichen Leitung des Physikers Julius Robert Oppenheimer war zu diesem Zeitpunkt zu einem gigantischen Unternehmen herangewachsen. Unter strengster Geheimhaltung arbeiteten rund 200.000 Menschen in 37 Fabriken und Labors an der Entwicklung der Atombombe. Der „Atomgeneral“ ließ keinen Zweifel daran, daß er das zwei Milliarden Dollar teure „Gerät“ auch zum Einsatz bringen wollte. Einige der Wissenschaftler hingegen bekamen Skrupel. Der Atomphysiker Leo Szilard versuchte Außenminister Byrnes einen Einsatz der Atombombe gegen das in seinen Augen bereits geschlagene Japan auszureden. Ohne Erfolg. „Es war Mr. Byrnes Ansicht“, schrieb Szilard später, „daß Rußland leichter zu kontrollieren sei, wenn wir die Atombombe besitzen und ihre Wirkungen demonstriert haben.“ Und so verwandelte sich die Stadt Hiroshima am 6. August nach den Worten von Dutch van Kirk, Besatzungsmitglied der „Enola Gay“, in „einen Topf mit kochendem schwarzem Öl“.
50 Jahre danach hält der Streit um die Interpretation der Geschichte unvermindert an. Während Historiker wie Gar Alperovitz am Glauben an Trumans moralische Integrität heftig rütteln, halten sich die Medien bislang weitgehend an die traditionelle Position. „Trotz ihres fürchterlichen Preises“, so resümierte zum Beispiel Newsweek, „hat [die Atombombe] vermutlich Menschenleben gerettet. Sie erlaubte zudem der Welt, mit anzusehen, was sie anrichten kann – vielleicht ein Grund, weshalb sie seitdem nie wieder eingesetzt worden ist.“
Das sind allerdings gewagte und höchst makaber formulierte Spekulationen, die nach Auffassung von Alperovitz dazu dienen, sich weiterhin um zentrale Fragen zu Hiroshima herumzudrücken: Fragen nach der „moralischen Integrität des Landes und seiner Führer“, aber auch „grundlegende Fragen über die Legitimität von Atomwaffen allgemein“. Dabei deuten Meinungsumfragen anläßlich des 50. Jahrestages von Hiroshima und Nagasaki darauf hin, daß die amerikanische Öffentlichkeit durchaus zu einer kritischen Auseinandersetzung bereit ist: Zumindest die Generation der unter 30jährigen glaubt, daß der Einsatz der Atombombe falsch war – und so mancher dürfte der späten Reue des damaligen Chefs des Generalstabes, Admiral William Leahy, zustimmen. „Die Japaner waren durch die Seeblockade und die konventionellen Luftangriffe längst besiegt und bereit, zu kapitulieren“, schrieb Leahy 1950. „Nach meiner Ansicht haben wir uns, indem wir die Bombe als erste einsetzten, ethisch auf eine Stufe mit den Barbaren aus den finstersten Zeiten des Mittelalters begeben.“
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