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Zum Dinner bei Adornos

Monika Plessners Erinnerungen an die versunkene Welt der deutschen Emigranten  ■ Von Rolf Spinnler

Die Szene spielt in Göttingen, im Herbst 1951. Ort der Handlung: das Studierzimmer eines deutschen Professors. Die Leiterin der Volkshochschule im westfälischen Lemgo, die zur Audienz vorgelassen wird, ist eine selbständige junge Frau. Sie hat Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft studiert, ist bei Kriegsende mit ihren beiden kleinen Töchtern aus Breslau nach Westdeutschland geflüchtet und engagiert sich jetzt tatkräftig beim Aufbau der Erwachsenenbildung in der neuen Bundesrepublik. Den Professor hat sie um ein Gutachten zu einem ihrer Projekte gebeten – der Beginn einer Liebesgeschichte zwischen dem knapp Sechzigjährigen und seiner zwanzig Jahre jüngeren Besucherin. „Wechseln wir die Seiten“, sagt er – „ein Vorschlag, damals noch undenkbar bei einem ,ordentlichen‘ deutschen Professor im Amt. Mir war, auf der anderen Seite des Schreibtischs, als befände ich mich in einem anderen Land.“

Vielleicht hat es ja mit Hannah Arendt und Heidegger – damals, in den zwanziger Jahren in Marburg – auch so angefangen. Aber diesmal, in Göttingen, gibt es ein Happy-End: Die Volkshochschulleiterin und der Professor heiraten im Dezember 1952. Monika Plessner (sie wird später zwei Bücher zur Literatur und Geschichte der Schwarzen in Amerika veröffentlichen), hat in den folgenden Jahrzehnten (bis zum Tod ihres Mannes 1985) Gelegenheit, dieses „andere Land“ kennenzulernen. Denn Helmuth Plessner, der Professor für Soziologie und Philosophie, ist nicht irgendwer: Durch seine Lebensgeschichte und seine intellektuelle Biographie ist er eng mit der deutschen Gelehrtenrepublik der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts verflochten. Der Privatdozent an der Universität Köln, einer der Begründer der philosophischen Anthropologie, verliert 1933 seine Stelle als Hochschullehrer (weil er, in der Terminologie der Nazis, „Halbjude“ ist), emigriert in die Niederlande und überlebt dort, untergetaucht, die Zeit der deutschen Besatzung. 1951 kehrt der Exilant nach Deutschland zurück, wo er vor allem durch seine historisch- politische Studie „Die verspätete Nation“ berühmt wird. Göttingen, das Frankfurter Institut für Sozialforschung, die New Yorker „New School for Social Research“ und Zürich sind dann Stationen, an die seine späte Karriere den Philosophen und seine Frau führt.

Es ist eine ferne Welt, dieses „andere Land“, mit dem Monika Plessner uns in ihrem klug komponierten und unprätentiös erzählten Erinnerungsbuch bekannt macht. Fern in mehrerer Hinsicht: ein Bildungsbürgertum vor dem Zeitalter der Massenkultur; eine Republik von Universalgelehrten vor der Ära von Massenuniversität und Spezialistentum; das Milieu jener deutsch-jüdischen Intellektuellen, die es nach 1933 in die Fremde verschlagen hat wie einst die griechischen Argonauten ins taurische Kolchis. Der Vergleich mit den Argonauten stammt von der Chronistin selbst, die genau über jene Mischung aus Nähe und Distanz verfügt, die ihre Anekdoten zu Sagen aus einer versunkenen Epoche werden läßt.

Wir hören Geschichten aus einer Kultur, wo der erste Besuch einer „Meistersinger“-Aufführung noch zum herausragenden Bildungserlebnis eines jungen Mannes gehörte. Wo es an den Hohen Schulen noch „elitär“ zuging, weil die Zahl der Studenten und Dozenten überschaubar war, das Bildungsprivileg eine relativ homogene soziale Schicht entstehen ließ. Wo bei einer Abendgesellschaft auf Long Island auf Plessners eingeredet wird in einem „absonderlichen Englisch, das weder Ku'damm noch Zeil, Prager- oder Kärtnerstraße verleugnen konnte“. Gerade diese treffsicher aufgespießten Details sind es, die dieses Panorama einer untergegangenen

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Welt so lebendig machen. Ein „rundlicher Herr mit schwarzem, städtischem Filzhut“ – Adorno – eilt in Sils Maria „im Sturmschritt“ die Bergstraße hinauf – und wird anderntags – „bin noch nicht ganz akklimatisiert“ – in einer Droschke gesichtet. Horkheimer läßt sich beim Abendessen entschuldigen – er sieht sich mit amerikanischen Gästen einen Boxkampf an („Das beste Mittel gegen Aggressionen“). Gershom Scholem trägt Jacketts mit zu kurzen Ärmeln und trinkt Unmengen von Himbeersaft; Gertrud Jaspers überfliegt ihre Besucher „mit dem Blick einer Oberschwester, der nichts entgeht“; und Hannah Arendt entblößt ihre „großen Kettenraucherzähne“.

Lange bevor es en vogue war, hat Helmuth Plessner die Wende von der utopischen Geschichtsphilosophie zur skeptischen Anthropologie vollzogen – das macht seine Schriften gerade heute wieder lesenswert. Auch Monika Plessner verfügt über diesen physiognomischen Blick, der bei all den Helden des Geistes, deren Bekanntschaft sie macht, ihr Allzumenschliches nicht übersieht. Das bewahrt sie davor, jene untergegangene Welt nur nostalgisch zu verklären. Der Modernisierungsschub, der sich mit der Zäsur von 1968 verbindet, hatte gewiß seinen Preis. Aber die Vergangenheit läßt sich nicht künstlich konservieren: „Horkheimer, wirklichkeitsblind, ein anderer King Lear, überlebte in einem Ambiente, dessen Schönheit absurd geworden war.“ Die Gruppensitzungen im Frankfurter Institut für Sozialforschung wirken auf die unbefangene Zuhörerin bisweilen wie Séancen, die sie unangenehm an die George-Jünger ihrer Jugend erinnern. So gesehen, kann man den eingangs beschriebenen „Seitenwechsel“ im Studierzimmer des Professors auch als Abschied von der alten Ordinarienuniversität lesen.

Und Monika Plessner hätte der uneitlen, unakademischen Menschlichkeit kein schöneres Denkmal setzen können als im Porträt des Mijnheer Jasper, jenes holländischen Transportarbeiters und Widerstandskämpfers, der ihrem Mann während des Krieges das Leben gerettet hat.

Monika Plessner: „Die Argonauten auf Long Island. Begegnungen mit Hannah Arendt, Theodor W. Adorno, Gershom Scholem und anderen“. Rowohlt Verlag, Berlin 1995. 160 Seiten, 32 DM.

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