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Er war Kampfgefährte und Freund des großen Stalin, bis ihn die innerparteiliche Opposition lieben lernte. Von da an wußte Sergej M. Kirow: "Sie werden mich umbringen." Dieser Mord 1934 war Auftakt zu einem Blutbad. Barbara Kerneck über die

Der Startschuß zu Stalins „großem Terror“ fiel am 1. Dezember 1934 um 16 Uhr und 34 Minuten in den Korridoren des Leningrader Smolnyj-Instituts.

Ob er den ersten Sekretär der Leningrader Parteiorganisation, Sergej Mironowitsch Kirow, traf? Jedenfalls lag eine Minute später in eben diesem Korridor des legendären Parteihauptquartiers Kirow – von einem Genickschuß hingestreckt. Der „nächste Kampfgefährte, Schüler und Freund des großen Stalin“, wie ihn die Prawda am nächsten Tag nannte, war tot. Neben ihm wälzte sich im Schockzustand, auf dem Rücken wie ein grotesker Riesenkäfer, der Urheber des Startschusses, der Komsomolze Leonid Nikolajew.

Die herbeieilenden Sanitäter kümmerten sich mehr um ihn als um Kirow. Zwanzig bis fünfundzwanzig führende Mitglieder der Leningrader Parteiorganisation beendeten ihre Konferenz nebenan und kamen auf den Korridor gelaufen. Für sie alle sollte ein Tod im eigenen Bett von diesem Tag an zum schier unerschwinglichen Luxus werden.

Schon seit einer geraumen Weile suchte Stalin nach Feinden, denen er die Folgen seiner horrenden wirtschaftspolitischen Irrtümer in die Schuhe schieben konnte. Ein Jahr zuvor war die seit 1927 betriebene Zwangskollektivierung der Landwirtschaft vorübergehend abgebremst worden. Trotzdem ebbte die im Zuge dieser Maßnahme unvermeidliche Hungersnot nur langsam ab.

Der forcierte Ausbau gewaltiger neuer Industriezweige im Lande machte die Produktion nicht effektiver. Viele der großen Werke arbeiteten mit nur halbausgelasteten Kapazitäten. Auf die zunehmende grobe, autoritäre Gängelung durch die Partei und den Verlust der innerbetrieblichen Demokratie antworteten die Arbeiter mit Bummelstreik.

In dieser Situation verkündete im Januar 1934 der XVII. Parteitag den „welthistorischen Sieg“ der Generallinie der Partei. Weniger umfassend siegte Stalin selbst bei den anschließenden Wahlen zum Generalsekretär: 292 Stimmen, ein Viertel der Parteitagsdeligierten, hatten den geheimen Wahlunterlagen zufolge 1934 gegen Stalin gestimmt – Kirow wäre ihnen der geeignetere Kandidat gewesen.

Natürlich wurde das Wahlergebnis gefälscht. Aber obwohl er seinen Hauptrivalen, Leo Trotzki, den Favoriten des verstorbenen Parteiführers Lenin, schon längst aller Ämter beraubt und 1929 aus dem Land gejagt hatte, mußte Stalin nun erkennen, daß sein Sieg über die Opposition noch lange nicht vollkommen war.

In Stalins Augen hatte die Parteilinie lange Zeit einen Bogen um das ehemalige Sankt Petersburg und nunmehrige Leningrad geschlagen. Die feierliche Gigantomanie der Architektur dieser Stadt trotzte dem Untertanengeist. Angefangen von den Fragen der innerparteilichen Demokratie bis hin zu den Fünfjahresplänen, zu allem artikulierte sich in der Wiege der Revolution Widerspruch. Gegen denn Kaukasus-Sprößling Stalin hatten der frühere Leningrader Parteichef Sinowjew und dessen Busenfreund Kamenjew, schon ZK-Mitglieder zu Lenins Zeiten, manches Mal gestimmt.

1925 setzte Stalin Sinowjew ab und ersetzte ihn durch Kirow, der den Leningradern unbekannt war. Fast über Nacht gingen alle Ortsgruppen der Partei, ihre Redaktionen und technischen Hilfmittel und die Garnisonen der Stadt in die Hände neuer Leute über. Als Herrscher von Stalins Gnaden hatte sich Sergej Mironowitsch danach darangemacht, die Opposition mit Stumpf und Stiel auszurotten.

„Hol's der Teufel, die Leute wollen doch nur leben und nichts weiter – im Grunde braucht ihr Euch doch nur anzusehen, was erreicht worden ist.“ Dies sagte Kirow im Januar vor seinem Tod zu den jubelnden „Massen“ auf dem Moskauer Roten Platz.

Er war ganz offensichtlich kein Intellektueller. Aber im Gegensatz zu Stalin war der ehemalige Heimzögling aus dem Krähwinkel Urschum im Gouvernement Wjatka ein echter Russe. Und viele schätzten seine – in ihren Augen – echt russischen Eigenschaften: Einfachheit, Offenheit, Begeisterungsfähigkeit und eine schallende Stimme.

Seit diesem Parteitag war Kirow sich seiner steigenden Beliebtheit bei der innerparteilichen Opposition bewußt: Er lebte in der steten, gespannten Erwartung seiner eigenen Hinrichtung. Und er wußte, wer ihm nach dem Leben trachtete. Dem bereits in Ungnade gefallenen Revolutionär Nikolai Bucharin zufolge war er noch im Winter 1933/34 – im Hinblick auf die wachsende Kriegsgefahr nach Hitlers Machtergreifung – für eine Mäßigung der Unterdrückung in Rußland und für eine Annäherung an die bürgerlichen Demokratien eingetreten.

„Mein Kopf liegt schon auf dem Block, sie werden mich umbringen“, sagte er zu einem alten Freund aus seinen Verbannungszeiten. Im August 34 verbrachte Kirow mit Stalin den Urlaub in Sotschi. Man kann sich vorstellen, wie erholsam dieser Aufenthalt für seine Psyche war.

Politische Mörder und ihre Opfer tanzen einen Pas de deux in den Geschichtsbüchern. Da trifft es sich gut, daß Leonid Nikolajew ebenso schwächlich war wie sein Opfer kräftig. Manche Quellen beschreiben ihn geradezu als Freak, als spinnenbeinigen, wasserköpfigen und kleinwüchsigen Sohn eines Alkoholikers.

1920 war Nikolajew in die Partei aufgenommen worden. Später heiratete er eine attraktive Litauerin namens Milde, eine Parteiinstruktorin. Es heißt, Kirow habe bei ihrem Anblick stets „freudig gelächelt“; Nikolajew habe anonyme Briefe erhalten, in denen seine Frau als „Matratze“ bezeichnet wurde. Milde gewinnt – nach einem Artikel der Zeitung Segodnja 1994 – dabei die Dimensionen einer bolschewistischen Seeräuberjenny, und Nikolajew gleicht dem Dichter Puschkin, den der Zar zum Duell provozierte, indem er seine Eifersucht gegen einen Rivalen schürte.

Fest steht: Als Politinstruktor im Frühjahr 34 plötzlich abgesetzt, ließ sich Nikolajew nicht zum Arbeitseinsatz an die Eisenbahnerfront abordnen und wurde deshalb aus der Partei ausgeschlossen. Zwei Monate vor dem Mord an Kirow nahm man ihn allerdings wieder auf. Von April bis Dezember 1934 hatte er hartnäckig alle angebotenen Arbeitsstellen abgelehnt.

Mehrfach beschwerte er sich bei Kirow. Nikolajew war ein notorischer Querulant und eignete sich somit ausgezeichnet für die gewöhnlich kurze Laufbahn eines politischen Killers. „Ich bin betrogen worden“, rief er aus, als man ihm später sein Todesurteil verkündete.

Im Laufe des Jahres war ein Teil von Kirows Leibwache auf Anordnung von oben ausgewechselt worden. Seinen langgedienten Bodyguard Borissow hatte man am Tage des Mordes von ihm fortgelockt. Er hatte Kirow gewarnt.

Mehrere Quellen berichten, daß Nikolajew schon zweimal festgenommen worden war, als er Kirow mit Pistole und Plänen von dessen täglichen Wegen auffällig folgte. Jedesmal hatte man ihn auf Anweisung des Volkskomissars für das Innere (NKWD), Jagoda, wieder freigelassen. Nikolajew erhielt zu jener Zeit bereits als Vollstrecker des Parteiwillens Schießunterricht und bekam eine Aktentasche mit Außenfach geschenkt, aus dem er jederzeit unauffälig die Pistole hervorholen konnte.

„Die haben mich gezwungen! Vier Monate haben sie mir Schießunterricht gegeben. Sie haben gesagt, daß ...“, jammerte Nikolajew sofort nach der Tat, als ihn Stalin persönlich verhörte und erntete dafür sofort Schläge. Später nahm er seine Aussage zurück. Auf dem Weg zu dem gleichen Verhör, auf der Ladefläche eines Lastwagens, wurde der getreue Borissow mit einer Eisenstange erledigt.

Mitarbeiter Kirows beseitigte man in den nächsten Monaten entweder direkt oder gab sie dem Tod in den Lagern anheim. Das gleiche geschah wenig später mit den Organisatoren der Tat. Insgesamt hatten mindestens sechzig mögliche ZeugInnen zu sterben, natürlich auch Nikolajews Mutter, Putzfrau in einem Straßenbahndepot, und die umstrittene Milde.

Noch am 1. Dezember, dem Todestag Kirows, unterzeichnete Stalin einen Erlaß, der Schnellverfahren gegen Angeklagte wegen Vorbereitung beziehungsweise Ausführung von Terrorakten vorsah und anwies, Todesurteile sofort zu vollstrecken. Nikolajew starb noch im selben Monat als erstes Opfer dieser Beschleunigungsmaßnahmen.

In den nächsten Wochen sollten ihnen Tausende von Menschen zum Opfer fallen. Alle Arten von Opposition, Unzufriedenheit und Kritik wurden nun auf die gleiche Ebene mit Terroranschlägen gebracht. Im Volksmund nannte man dieses Blutbad die „Kirowsche Flut“.

Wie die alte zaristische Gendarmerie, die die liberalen Väter für die Taten der radikalen Söhne verantwortlich zu machen pflegte, so belastete Stalin nun seine alten Konkurrenten Sinowjew und Kamenjew mit der Verantwortung für den Mord an Kirow. Im Sommer 1936 wurden sie nach dem sogenannten „Prozeß der 16“ liquidiert. Der Kirow-Mord spielte noch in den großen Moskauer Schauprozessen 1936-37 eine wichtige Rolle. Er entfachte einen landesweiten Verfolgungswahn, der noch heute nicht ganz abgeflaut ist.

Außer dem bereits erwähnten Artikel habe ich in der neueren russischen Tagespresse nur eine weitere längere Abhandlung zum Kirow-Mord gefunden, in der Nesawisimaja Gaseta (1.12.94) von dem Historiker Jakow Rokitjanski. Rokitjanski hat etwas sehr Naheliegendes getan, worauf bisher kaum jemand kam: Er verfolgte die Lebensläufe der Teilnehmer der Konferenz, die während des Kirow-Mordes im Smolnyj tagte.

Dabei stieß er auf einen Parteiverlagsmanager namens Boris Schif, dem an dem historischen Tage in einem nahegelegenen Hospital ein Töchterchen geboren wurde. Schif war vor den anderen hinausgelaufen, um dort anzurufen. Dabei erblickte er Kirow und Nikolajew auf dem Boden liegend und einen dritten Mann, der sich um die Ecke entfernte. War Kirow etwa gar nicht von Nikolajew niedergestreckt worden, sondern dem „Kontrollschuß“ eines Unbekannten erlegen?

Der von Stalin geschaffene Mythos von Kirow, dem kristallreinen Kämpfer, überlebte Stalin selbst. Nach Kirow wurden Fabriken, Kolchosen, Bergwerke und Schiffe benannt. Seinen Namen trugen oder tragen 17 Städte.

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