: Perverser Realismus
Es ist nicht Bürgerpflicht, in die Kasernen zu ziehen – sondern jeden Krieg zu ächten: Zwischenruf eines Pazifisten ■ Von Rolf Winter
Jeder Krieg ist pervers. Man brauchte Bosnien nicht, um das zu wissen. Jede staatlich verordnete Tötung ist infam und unentschuldbar wie der ordinäre Mordfall, für den Bild die empörten Überschriften bemüht. Die Idee, daß ein Staat zum massenhaften Umbringen befehlen dürfe, ist nicht „Realismus“, sondern krank. Ich dachte immer, daß, wenn irgend jemand, die Deutschen das spätestens seit 1945 begriffen haben müßten.
Jeder Soldat ist einer zuviel. Jeder, der in eine „Kaserne“ genannte Lehrlingswerkstatt des Tötens geht, rüstet sich für die Bosniens von morgen. Daß Orwell unsere Sprache regelt und aus Soldaten „friedenbewahrende“ oder „friedenschaffende“ Individuen macht, ändert nichts: Der einzige Sinn soldatischer Existenz ist, technisch und geistig für das Umbringen parat gemacht zu werden.
Jede nationale Streitkraft ist mehr als nur ein Diebstahl an der Gesellschaft, von der sie mit irrsinnigen Geldern finanziert wird: Sie ist die Fortsetzung der elendiglichsten Tradition auf diesem Planeten, die eine entsetzliche Blutspur durch die Geschichte zieht.
Solange es nationale Streitkräfte gibt, wird es Kriege geben; das ist so blutig wahr wie die Einsicht, daß es Regen geben wird, solange Wolken ziehen. Die nationale Streitkraft ist die Institutionalisierung des Mordens, für das sich, wie gegenwärtig unter den Serben, noch immer „legitime“ oder gar Gründe in der „nationalen Ehre“ eines Volkes fanden.
Ich bin kein Realist, aber ich lade Sie ein, eine Vision mit mir zu teilen: Es gibt keine nationalen Streitkräfte mehr, auch – sorry, Herr Schröder – keine nationalen Rüstungsindustrien. Es gibt nur in allen Erdteilen eine Weltpolizei der UNO mit dem Monopol für kriegerisches Gerät. Die Weltpolizei, zu der sich in allen Ländern freiwillig melden mag, wer Lust dazu hat, ein Polizist zu sein, rückt, wenn irgendwo irgend jemand gegen das Völkerrecht verstößt, so aus, wie unsere lokale Polizei zur Festnahme eines Räubers ausrückt, und dann wird ermittelt, angeklagt und geurteilt.
Illusorisch? Gewiß, aber nur im Licht jenes ekelhaft etablierten und blödsinnig unumstrittenen Realismus, der im Lauf der Menschheitsgeschichte zu Tausenden von Kriegen und von 1939 bis 1945 zu ihrer deutschen Apotheose führte, bei der beiläufig 60 Millionen Menschen krepierten. Ich gebe zu, daß in einer Zeit, in der das Kinkeln und Rühen und das Kohlen und das Feuern aus „Tornados“ als Realismus durchgeht, der Ruf nach der Abschaffung der nationalen Streitkräfte die Durchschlagskraft einer fallenden Daunenfeder hat. Dies bleibt dennoch wahr: Wer sich nicht für die Abschaffung nationaler Streitkräfte stark macht, perpetuiert die Herrschaft der Karadžić und Milosević und Jelzin dieser Welt.
Nicht Achtung gebührt nationalen Streitkräften, wie Serben erneut lehren, sondern Verachtung. Es ist nicht Bürgerpflicht, in die Kasernen der nationalen Streitkräfte zu ziehen, sondern schrecklicher Ausdruck der Bereitschaft umzubringen – wenn denn das „Nationale“ dazu kommandiert. Eine unwürdigere Rolle kann der Mensch nicht spielen.
In Bosnien hat die Nato einen feuchten Kehricht verloren, denn kein Nato- Land wird bedroht, und deutsche Soldaten in – oder über – Bosnien sind so angebracht wie ein paar alte Touris von der Waffen-SS in Auschwitz. Daß die Realisten in Bonn noch gestern einsichtsvoll davon redeten, „aus den bekannten historischen Gründen“ komme ein Einsatz deutscher Soldaten im „ehemaligen Jugoslawien“ nicht in Betracht, während sie heute – sozialdemokratische und grüne Realisten unter ihnen – die Tornados loslassen, beweist nur erneut, wie willig-elastisch der Realismus ist, wenn es um das Kriegerische geht, insbesondere dann, wenn sich dieser Realismus durch parlamentarische Präsenzpflicht daran gehindert wähnt, in Bosnien selbst den Kopf hinzuhalten, Herr Klose.
Im ehemaligen Jugoslawien stellt sich eine UNO-Aufgabe, denn dort sind Völkerrechtsverbrecher dingfest zu machen. Die UNO, sie allein muß zum Herrn des Verfahrens werden, und die endlich, endlich um Potenznachweis greinende Nato ist dabei so hilfreich wie Herr Waigel bei der Etatkonsolidierung. Die UNO, von nationalen und Blockinteressen ganz unabhängig, muß den Muskel bekommen, den zum Leidwesen aller ausgerechnet sie nicht hat, während die Militanten die ihren spielen lassen. Jeder Tag, an dem UNO-Soldaten in Bosnien von Halunken vorgeführt werden, ist ein verheerender Tag.
Nichts taugt zur Belebung des Wahns, militärische Lösungen wären solide Lösungen, und Bosnien taugt dafür gar nicht. Wer heute um die Toten von Sarajevo trauert, heuchelt, wenn er sich rüstet, morgen in Pale trauern zu lassen. Wer nach konventionellem Muster befrieden – also neue Feinde schaffen – will und zu diesem Zweck Tornados feuern läßt, hat aus der Geschichte nicht gelernt.
Die Hand solle dem Deutschen abfallen, hat kurz nach dem zweiten deutschen Weltkrieg der in gewissen Freistaaten auch heute noch verehrte Staatsmann Strauß gesagt, der noch einmal ein Gewehr in die Hand nehme. Es tut schmerzhaft gut, sich an jene Zeit zu erinnern, damit man versteht, welchen bösen Weg die Deutschen seither zurücklegten: Nun werden wieder deutsche Flugzeuge – wieder mit dem Eisernen Kreuz, mit dem auch Hitler seine Luftwaffe zierte – durch den Himmel donnern, aus dem sie schon einmal den Tod auf die Erde sandten.
Aber der deutsche Krieg von 1939 ist mit dem nicht vergleichbar, der nach dem Willen der Realisten heute in Bosnien eskalieren muß? Alle Kriege sind vergleichbar. Alle haben mit Morden zu tun, alle mit einem Karadžić, alle mit Hybris, mit Unmenschlichkeit. Allen muß man sich verweigern, alle muß man ächten.
Vollends die Deutschen. Weiß Gott, wir haben unser Mordsoll erfüllt, weiß Gott nicht nur in Auschwitz. Wenig ist verlogener als der Versuch, die Existenz der Bundeswehr für ein Zeichen zurückgewonnener staatlicher Normalität zu halten, während sie in Wahrheit nur den Rückfall in die Normalität der Krankheit darstellt. Wenig ist kennzeichnender für die moralische Befindlichkeit dieses Volkes als die Abwesenheit einer radikal pazifistischen Massenbewegung.
Deutscher Draufschlag in Bosnien ist nicht Beitrag zur Lösung eines Problems, sondern die unerlaubte Fortsetzung einer Tradition, die nichts als Scham gebietet, denn sie hatte immer Tod im Sinn. Aber, die Lage in Bosnien bedenkend: Man muß jetzt etwas tun?
Allerdings, und zwar besser heute als morgen: Man muß die in eine demütigende Situation gebrachte UNO sofort stärken, daß sie als einzige anerkannte Ordnungsmacht der Völkergemeinschaft anordnen und erzwingen kann; gewaltfrei, wenn es geht, mit Gewalt, wenn es nicht anders geht. Man muß sie in einen Stand setzen, der sie befähigt, Räubern auf die Finger zu schlagen, Vertreibungen zu verhindern und Verbrecher zu verurteilen. Man muß diese Welt, dieses Dorf, einer einzigen Autorität unterstellen, die vom läppisch und gefährlich Nationalen frei ist. Man muß mit einer Konvention brechen, die stets pathetisch das Gute zu wollen vorgab und doch nur Gräber hinterließ – und Generalität & Politiker mit ein paar Kränzen & Krokodilstränen.
Wenn sich nicht die Deutschen, die Meister des Todes, dafür einsetzen – wer denn sonst?
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