: Drei verlorene Jahre
Gegen die intellektuelle, moralische und politische Kapitulation: Den Fragen zumindest muß man sich stellen ■ Von Thomas Schmid
Träumen ist statthaft, gewiß. Wer wünschte sich nicht eine demokratisch gewählte Weltregierung? Gäbe es auf der ganzen Welt doch nur einen einzigen Staat! Seine Bürger hätten zwar – es liegt nun leider mal in der menschlichen Natur – ab und zu Streit, es gäbe auch Diebe und Räuber. Aber über kriegerisches Gerät würde allein die Polizei dieses Staates verfügen. Und so wäre jeder Soldat ein Soldat zuviel. Die Weltpolizei würde alles regeln. Und die Menschen könnten abends alle mit ruhigem Gewissen zu Bette gehen.
Neu ist der Gedanke weiß Gott nicht. Zuletzt erfreute er sich nach dem Fall der Mauer und dem Ende der bipolaren Weltordnung einer gewissen Popularität. Da war viel von Weltinnenpolitik, von der künftigen Rolle der UNO als Weltpolizei die Rede und einige Neunmalkluge schwadronierten schon vom Ende der Geschichte. Ein arabischer Diktator hat sie dann eines Besseren belehrt.
Aus dem Golfkrieg sind viele Lehren zu ziehen. Eine lautet: Es gibt keine Weltinnenpolitik, die UNO ist keine Weltregierung. Bei ihrem Feldzug gegen Saddam Hussein haben die USA die Vereinten Nationen umstandslos für ihre eigenen Interessen instrumentalisiert. Spätestens seit dem Golfkrieg müßte auch naiven Gemütern klargeworden sein, daß die UNO auch nach der Implosion des Sowjetreiches keine von staatlichen Interessen unabhängige Instanz ist. Leider.
Genau deshalb auch hat die UNO auf dem Balkan kläglich versagt. Natürlich wäre es zu begrüßen, die Vereinten Nationen wären allein Herr des Verfahrens, um auf dem Balkan Frieden herzustellen. Aber vergeblich bat ihr Generalsekretär in seiner „Agenda für den Frieden“ vor drei Jahren um eine ständige UN-Einsatztruppe unter seinem Kommando und dem des Sicherheitsrates. Eine solche Truppe wurde und wird nicht gewollt. Noch nie haben sich US-Soldaten einem UN-Kommando unterstellt, auch im Golfkrieg nicht. Eine Reform der UNO, deren Entscheidungsstruktur ja Resultat des Zweiten Weltkrieges ist, tut dringend not, will man die Organisation langfristig stärken und ihre Legitimationsdefizite beheben. Doch welches Mitglied des Sicherheitsrates will schon auf sein Privileg, das Vetorecht, verzichten?
Eine Reform der UNO, so sie denn überhaupt kommt, wird es in absehbarer Zeit nicht mehr geben. So bleibt nichts anderes übrig, als mit der Weltorganisation, wie sie nun mal ist, vorliebzunehmen, mit einem unvollkommenen Instrument des Krisenmanagements also, will man nicht den Rückfall in nationale Kanonenbootpolitik riskieren. Unvollkommen heißt auch militärisch schlecht gerüstet, und deshalb hat die UNO im konkreten Fall des Balkankrieges die Nato angefordert oder konnte sich die Nato, wenn man so will, der UNO erfolgreich andienen.
Viele Pazifisten hierzulande haben sich schon kurz nach dem Ausbruch des Kriegs auf dem Balkan stark engagiert, als viele intellektuellen Dünnbrettbohrer von heute noch nicht einmal wußten, daß es in Bosnien Muslime gibt. Sie haben Flüchtlingshilfe geleistet, antinationalistische Gruppen unterstützt, Deserteure versteckt und die Durchsetzung drastischer Sanktionen gefordert. Man kann heute darüber streiten, ob ein Embargo, das nie ernsthaft gewollt wurde, zusammen mit anderen zivilen Maßnahmen den Krieg damals hätte beenden können. Es spricht vieles dagegen. Zu viele Waffenfabriken standen in den Kriegs- und Krisengebieten selbst. Es spricht hingegen sehr vieles dafür, daß vor drei Jahren begrenzte militärische Schläge die Dynamik der serbischen Expansion hätte brechen können. Damals hätte man mit relativ wenig militärischem Einsatz viel erreichen können. Heute wird man mit relativ viel Einsatz viel weniger erreichen.
Und trotzdem ist eine militärische Intervention heute unverzichtbar, nicht zur Beendigung des Krieges schlechthin, sondern zunächst aus rein humanitären Gründen. Es gibt keine pazifistische Strategie, die Versorgung der 350.000 Menschen in Sarajevo zu gewährleisten. Und die belagerte Bevölkerung hat nach drei überstandenen Kriegswintern ein Recht darauf, daß ihr Überleben nicht von der Laune und Taktik von Kriegsverbrechern bestimmt wird. Dasselbe gilt für Bihać und für Goražde. Die Menschen, die ihr Leben der UNO anvertraut haben, haben schon heute ein Recht auf bewaffneten Schutz, nicht erst, wenn ein General Mladić die Frauen und Kinder auszusortieren beginnt. Eine Intervention kann zu einer Ausweitung des Krieges führen, wird befürchtet. Wird auch bedacht, daß bislang auch oder gerade jede Nicht-Intervention zur Ausweitung des Krieges geführt hat? Schon spricht Karadžić von der Eroberung ganz Sarajevos.
Jedes Zaudern jetzt droht den künftigen Verhandlungsspielraum einzuengen. Letztlich wird dann nur noch die Kapitulation vor dem Sieger bleiben, das heißt, man wird den militärischen Sieg der bosnischen Serben samt der Vertreibung von über zwei Millionen Menschen akzeptieren oder die bosnischen Serben militärisch zur Kapitulation zwingen müssen. Ein militärischer Sieg der serbischen Seite wäre allerdings noch längst keine Garantie für den Frieden. Kroatien erhebt völkerrechtlich berechtigte Ansprüche auf die serbisch besetzte Krajina. Der serbisch-kroatische Krieg ist nur suspendiert. Und wer will verhindern, daß die Serben das erfolgreiche Rezept der ethnischen Säuberung nicht morgen schon auch anderswo, zum Beispiel im Kosovo anwenden, auf die Gefahr hin, Makedonien, Albanien, ja sogar Griechenland und die Türkei in den Krieg zu ziehen. Immer mehr spricht andererseits dafür, daß ein Frieden auf dem Balkan ohne eine massive militärische Niederlage der serbischen Seite nicht mehr zu haben ist, daß nur eine schwere Niederlage die weithin in gefährlichen Mythen befangene Anhängerschaft von Karadžić und auch Milošević zur Besinnung bringt.
Drei Jahre hat man gezögert, dem Aggressor auf dem Balkan Paroli zu bieten. Dies hat jede moralisch akzeptable politische Lösung des Konflikts erschwert. In den drei Jahren ist der Konsens im UN-Sicherheitsrat weitgehend zerbrochen, was die Weltorganisation zunehmend gelähmt hat. Nach drei Jahren sind die Blauhelme nicht mehr fähig, ohne Hilfe der Nato die Versorgung der eingeschlossenen Bevölkerung zu gewährleisten. Man kann sich darüber streiten, ob Deutschland Tornados schicken soll oder nicht, aber von einem „deutschen Draufschlag“ (Rolf Winter) zu sprechen, der in einer Tradition steht, die „immer Tod im Sinn“ hatte, ist absurd. 1914 zogen Hunderttausende von Deutschen grölend gen Frankreich in den Krieg, zwischen 1939 und 1945 überfiel und zerstörte die deutsche Wehrmacht ganz Europa, 1995 gibt es keine deutsche Kriegsbegeisterung, auch bei Kinkel und Rühe nicht. Man kann den beiden vieles unterstellen, aber ein deutscher Eroberungskrieg steht ganz gewiß nicht bevor. Nein, das ist nun wirklich etwas gar einfach gestrickt.
Es gibt leider keine einfachen Antworten. Aber wer nach dem Drama von Srebrenica, nach der angekündigten und unter den Augen der Weltöffentlichkeit vollzogenen Vertreibung von über 20.000 Frauen und Kindern, nach der Ermordung von über tausend Männern, sich nicht mindestens die Frage stellt, wie den Menschen in Sarajevo, Bihać und Goražde geholfen werden kann, sollte zu Bosnien schweigen. Er hat intellektuell, moralisch und politisch kapituliert.
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