Ein Kuß kann strafbar sein

■ Bundesrat will sexuellen Mißbrauch in der Therapie ahnden. Der "autoritätsunterworfene" Patient soll geschützt werden. Jährlich 600 Opfer.

Bonn (taz) – Katrin W.* hatte große Minderwertigkeitsgefühle. Sie suchte Hilfe bei dem Hochschulprofessor und Therapeuten Hans Felix Z.* Schon beim Erstgespräch habe der Therapeut „sexuelle Probleme“ diagnostiziert, sagte die junge Frau. Doch da könne man Abhilfe schaffen, habe er ihr versichert. Die Frau begann die Therapie, ohne zu ahnen, was auf sie zukommen sollte. Zu ihrer „Behandlung“ habe es gehört, so berichtete sie, daß sie den Therapeuten nach Anleitung seiner Ehefrau im ehelichen Schlafzimmer oral befriedigen sollte. In ihrer Not ließ sich die junge Frau auf all das ein. Später vertraute sie sich der Kölner Beratungsstelle für Opfer von sexuellem Mißbrauch „Zartbitter“ an.

Sie und vier andere Frauen schilderten 1992 in eidesstattlichen Erklärungen die Übergriffe des Therapeuten und warfen ihm vor, ihre Abhängigkeit zu seinem eigenen sexuellen Vorteil genutzt zu haben. Daraufhin wurde der Psychologieprofessor vom Dienst suspendiert und vom Berufsverband Deutscher Psychologen (BDP) ausgeschlossen. Strafrechtlich konnte Hans Felix Z. wegen sexuellen Mißbrauchs in der Therapie im Fall von Katrin W. aber nicht belangt werden. Solche Übergriffe in der Therapie sind bisher nicht strafbar.

Das soll sich nun ändern. Der Bundesrat will auf Antrag des Stadtstaats Hamburg die Gesetzeslücke schließen: Sexueller Mißbrauch in der Therapie soll künftig mit Geldstrafen oder Freiheitsstrafen bis zu fünf Jahren geahndet werden. Geplant ist, den Paragraph 174 des Strafgesetzbuches entsprechend zu ergänzen. Strafbar macht sich dann derjenige, „der als Therapeut die Besonderheit eines Behandlungsverhältnisses dazu mißbraucht, um daraus Vorteile für einen geplanten oder auch spontanen sexuellen Übergriff zu ziehen“. Ob ein Behandlungsverhältnis besteht, soll sich aus der Sicht des Patienten entscheiden. Schon der Versuch des sexuellen Mißbrauchs ist dann strafbar. Die Staatsanwaltschaft soll von Amts wegen und ohne besonderen Antrag aktiv werden.

Den bisherigen strafrechtlichen Schutz hält der Bundesrat für „ungenügend“. Zwar stehe der sexuelle Mißbrauch von Amtsträgern gegenüber „Gewaltunterworfenen oder Verwahrten“ unter Strafe, doch lasse das Gesetz den „in ähnlicher Weise autoritätsunterworfenen Patienten gegenüber der überlegenen Position des Arztes oder Therapeuten weitgehend ungeschützt“, heißt es. Der Rückgriff auf die Regelungen der Körperverletzung oder der Beleidigung reichten nicht aus.

In dem Gesetzentwurf wird bewußt darauf verzichtet, den Täterkreis durch Berufsbezeichnungen einzugrenzen. So wollen die Verfasser erreichen, daß das neue Gesetz nicht nur für anerkannte Heilberufe, sondern auch für „die Behandlung durch Außenseiter“ gilt. Der Entwurf ist der Bundesregierung zugeleitet worden. Der Bundestag berät darüber.

Untersuchungen und Umfragen zeigen, daß sexueller Mißbrauch in der Therapie kein Einzelfall ist. Vielmehr muß von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen werden. Der Bundesrat stützt sich in seiner Einschätzung auf neuere Forschungen, die das Institut für Psychotraumatologie in Freiburg im Auftrag des Bundesministeriums für Jugend und Familie durchgeführt hat (siehe auch das Interview).

Die Psychoanalytiker Monika Becker-Fischer und Gottfried Fischer schätzen, daß jährlich 300 der rund 100.000 Patienten, die eine Therapie von der Kasse bezahlt bekommen, dabei Opfer von sexuellem Mißbrauch werden. Wenn man die Therapien berücksichtigt, die die Krankenkassen nicht anerkennen, würden jährlich rund 600 Männer und Frauen in der Therapie sexuell mißbraucht. „Das sind“, so betont Becker-Fischer, „absolute Minimalschätzungen.“ Dies bedeute aber nicht, daß die Mehrzahl der Therapeuten sich an ihren Patientinnen vergreifen würden. Vielmehr habe „eine sehr kleine Gruppe“ von Therapeuten das Gros der Mißbrauchsopfer zu verantworten, weiß Becker-Fischer.

Jeder zwölfte näherte sich seiner Patientin

Schon Ende der 70er Jahre ergab eine Studie in den USA, daß zehn bis zwölf Prozent aller männlichen Therapeuten nach eigenen Angaben mindestens einmal in ihrer beruflichen Laufbahn sexuelle Beziehungen zu KlientInnen hatten. Die erste größere deutsche Untersuchung (Retsch 1990) zeigt, daß von 138 befragten Verhaltenstherapeuten 8,6 Prozent sexuelle Kontakte zu ehemaligen KlientInnen haben. Laut der Studie hielten 31 Prozent der Befragten ein solches Verhalten „in seltenen Fällen“ für ethisch vertretbar. 18,8 Prozent der befragten 138 Therapeuten hielten das uneingeschränkt für ethisch vertretbar.

Seriös arbeitende Therapeuten plädieren schon lange für eine Bestrafung der schwarzen Schafe in der Branche. Deswegen begrüßt der Berufsverband Deutscher Psychologen (BDP) „ausdrücklich“ die Gesetzesinitiative des Bundesrates, weil „bisher nur in den wenigsten Fällen sexuelle Übergriffe in der Therapie strafrechtlich geahndet werden konnten“, sagte Geschäftsführer Gerd Pulverich.

Inge Sodermanns, Psychologin bei der Kölner Beratungsstelle „Zartbitter“, hält die Gesetzesinitiative für „einen großen Schritt nach vorne“, weil es bisher kaum möglich gewesen sei, Therapeuten strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Versuche eine Frau zivilrechtlich, Schmerzensgeld oder Schadensersatz zu bekommen, müsse sie nachweisen, daß es ihr durch den Mißbrauch schlechter gehe als vorher. „Es ist ganz wichtig, daß ein solches Verhalten per se als illegal gilt“, betont Sodermanns. Karin Nink

Namen geändert