: „Sie aufzunehmen, ist Christenaufgabe“
■ Heiner Geißler, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU, über die Aufnahme von Bosnien-Flüchtlingen und über die irrige Annahme, dies schüre Fremdenhaß
taz: Ihr Parteifreund Innenminister Manfred Kanther lehnt die weitere Aufnahme von Flüchtlingen aus Ex-Jugoslawien ab. Soll Deutschland die Grenzen dicht machen?
Heiner Geißler: Die Frage ist, wozu wir verpflichtet sind. Es hat immer zu den Aufgaben von Christen gehört, Menschen aufzunehmen, die in Not sind. Ich möchte etwas zum Sprachgebrauch klarstellen: Die Menschen, die aus Bosnien zu uns kommen, sind keine Flüchtlinge, sondern Vertriebene. Sie haben keine Möglichkeit, in ihren Heimatgemeinden zu bleiben, sondern sind Opfer von Gewalt. Ein Ende der Vertreibung ist logischerweise nur dann erreichbar, wenn die Serben militärisch gestoppt werden. Eine grundsätzliche Weigerung, diese Vertriebenen bei uns aufzunehmen, widerspricht unserem Menschenbild und unseren humanitären Auffassungen. Ich bin allerdings wie der Innenminister dafür, daß die deutsche und europäische humanitäre Hilfe vor Ort verstärkt wird, damit das Tun der bosnischen Serben nicht auch noch dadurch belohnt wird, daß ihre Opfer bis nach Deutschland ausweichen müssen. Wenn die Vertriebenen aber nicht in Bosnien oder Kroatien bleiben können, müssen vor allem die anderen europäischen Länder Vertriebene aufnehmen. Mit 400.000 bosnischen Vertriebenen hat Deutschland mehr Menschen aufgenommen als die gesamte Europäische Union.
Wie wollen Sie die anderen EU- Länder dazu bewegen?
Erklärungen, wonach die Verteilung der Vertriebenen ungerecht sei, genügen natürlich nicht. Noch in den nächsten Tagen müßte eine EU-Sondersitzung der zuständigen Minister zusammentreten und sich auf einen Verteilungsschlüssel einigen.
Ihr Fraktionschef Wolfgang Schäuble sagt: Die Aufnahme von Flüchtlingen unterstützt die serbischen Vertreibungen.
Es ist in der Tat etwas daran: Wenn die bosnischen Serben hören, daß es in Westeuropa umfangreiche Diskussionen über die Unterbringung von Vertriebenen gibt, werden sie sich nicht gerade veranlaßt fühlen, mit den Vertreibungen Schluß zu machen. Andererseits werden sie mit den Vertreibungen nicht aufhören, weil wir die Grenze dicht machen.
Außenminister Kinkel hegt die Befürchtung, die deutsche Bevölkerung könne überfordert werden, wenn noch weitere Flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien hierherkämen. Teilen Sie solche Annahmen?
Das hat noch nie gestimmt. Die Gründe, warum Menschen Fremdenhaß oder Ausländerfeindlichkeit entwickeln, liegen bestimmt nicht in einer angeblichen Überbevölkerung. Die Juden wurden im Dritten Reich verfolgt, ohne daß damals jedes Jahr 100.000 bis 200.000 Einwanderer ins Land gekommen sind. Heute leben bei uns 40.000 Juden und trotzdem werden jüdische Friedhöfe geschändet. Die Pogrome gegen die Indianer in Amerika fanden in einem fast menschenleeren Kontinent statt. In Deutschland leben heute weniger Menschen als vor 20 Jahren. Fremdenfurcht hat nichts mit Überbevölkerung zu tun, dafür aber um so mehr mit falscher Information, verquerer Bildung und Verwirrung der Geister. Interview Hans Monath
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen