: Die aktuelle Vertreibung der Menschen aus Srebrenica und epa macht das Flüchtlingsproblem wieder virulent. Auch wenn der deutsche Innenminister schon im Vorfeld abwinkt - das UN-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) geht davon aus, daß Zehnta
Die aktuelle Vertreibung der Menschen aus Srebrenica und Žepa macht das Flüchtlingsproblem wieder virulent. Auch wenn der deutsche Innenminister schon im Vorfeld abwinkt – das UN-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) geht davon aus, daß Zehntausende Aufnahmeplätze im europäischen Ausland benötigt werden.
UNHCR klopft an die Tür des europäischen Hauses
Die Massenvertreibung aus Srebrenica und Žepa konfrontiert das zuständige Flüchtlingshochkommissariat der UNO (UNHCR) mit der Frage nach Unterbringungsmöglichkeiten. Benötigt werden Aufnahmeplätze für möglicherweise Zehntausende von Flüchtlingen aus den ehemaligen ostbosnischen Muslimenenklaven. Anfang August will das UNHCR entsprechende Voranfragen an die Regierungen west- und osteuropäischer Staaten richten. In der UNHCR-Zentrale in Genf wird mit einem Bedarf von mindestens 5.000 Aufnahmeplätzen für Flüchtlinge aus Srebrenica und Žepa gerechnet, im ungünstigsten Fall müßten bis zu 50.000 Menschen aus der Region im Ausland untergebracht werden.
Für die noch ungenauen Prognosen gibt es eine Reihe von Gründen. Derzeit befragen UNHCR-Mitarbeiter die über 30.000 ehemaligen Einwohner Srebrenicas und Žepas, die bis zum Wochenende in Notunterkünften in den zentralbosnischen Regionen Tuzla und Zenica untergebracht wurden, nach ihren Wünschen. Die meisten Frauen dort wollen zumindest solange nicht ins Ausland verlegt werden, wie sie das Schicksal ihrer Männer, Söhne oder Brüder nicht kennen oder mit ihnen wiedervereint sind.
Die bosnischen Serben halten die meisten der von ihnen so bezeichneten „wehrfähigen“ 16- bis 60jährigen männlichen ehemaligen Einwohner Srebrenicas und Žepas nach wie vor gefangen. Zumeist an unbekannten Orten, zu denen bislang weder das UNHCR noch das Internationale Komitee vom Roten Kreuzes (IKRK) Zugang erhielten. Die Indizien, wonach möglicherweise mehrere tausend dieser Männer in einem Fußballstadion in Bratunac und anderen Orten von den Serben ermordet wurden, verdichten sich.
Das UNHCR schließt nicht aus, daß die bosnische Regierung Einwände erheben könnte gegen die Verbringung einer großen Zahl zumeist muslimischer Flüchtlinge ins europäische Ausland. Schon in der Vergangenheit plagte die Regierung die Sorge, humanitäre Maßnahmen dieser Art könnten ungewollt künftigen Versuchen der Karadžić-Serben zur Eroberung und „ethnischen Säuberung“ bestimmter Regionen Vorschub leisten. Andererseits besteht die Gefahr, daß ein zu starker Flüchtlingsdruck auf die zentralbosnischen Regionen, in denen 1993 auch zwischen Muslimen und Kroaten gekämpft wurde, zu erneuten Spannungen zwischen diesen beiden Volksgruppen führen könnte. Derzeit versorgt das UNHCR allein in den Regionen Tuzla und Zenica über eine Million Menschen. Davon sind über die Hälfte Vertriebene aus anderen Regionen, der Rest sind Einheimische, deren Lebensumstände durch den Krieg stark beeinträchtigt werden. Für die Bereitstellung von Unterkünften ist die Regierung in Sarajevo verantwortlich, für die Versorgung dieser Menschen mit Lebensmitteln und anderen überlebenswichtigen Gütern das UNHCR. Dessen Genfer Zentrale beschreibt die Versorgungslage als „zur Zeit noch zufriedenstellend“. Die Bestände im UNHCR-Lager bei Split an der kroatischen Adriaküste seien „noch ausreichend“. Und noch sind die Straßen von Split nach Tuzla und Zentralbosnien für Hilfskonvois offen. Die südliche Route über Mostar verläuft allerdings gefährlich nahe entlang der serbischen Frontlinie. Der muslimische Ostteil von Mostar wurde in den letzten Tagen verstärkt von den Serben beschossen. Die dortigen Behörden haben am Donnerstag den Ausnahmezustand ausgerufen.
Sollte der Krieg um Bihać auf Kroatien übergreifen und es zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der kroatischen Armee und den Krajina-Serben kommen, könnte das die Verbindungsstraßen von Split nach Zentralbosnien unterbrechen. Damit würde sich die Versorgungssituation der Flüchtlinge in Tuzla und Zenica sehr schnell dramatisch verschlechtern. Außerdem wäre mit neuen Flüchtlingsbewegungen aus Kroatien zu rechnen. In diesem ungünstigsten aller derzeit denkbaren Szenarien könnte der Bedarf an Aufnahmeplätzen im europäischen Ausland sehr schnell auf über 100.000 ansteigen. In Kroatien selbst, das inzwischen über 400.000 Menschen aus Bosnien aufgenommen hat, ist nach Einschätzung des UNHCR „kein Platz mehr für weitere Flüchtlinge“. Bei den Voranfragen an europäische Regierungen berücksichtigt das UNHCR die Zahl der bislang schon aufgenommenen Flüchtlinge. Mit 350.000 Menschen aus Ex-Jugoslawien hat Deutschland zwar nicht, wie Bundesinnenminister Kanther (CDU) erklärte, 80 Prozent aller 512.000 Flüchtlinge aufgenommen, die nach UNHCR- Angaben seit Sommer 1991 in Europa außerhalb Ex-Jugoslawiens untergekommen sind, aber immerhin 68 Prozent. UNHCR-Sprecher Ron Redmond erklärte am Freitag, damit habe Deutschland „offensichtlich seinen Beitrag geleistet“. Redmond verwehrte sich inzwischen entschieden gegen die Interpretation seiner Äußerung, wonach Deutschland künftig keine Flüchtlinge mehr aufnehmen müsse.
Im Vergleich zu ähnlich großen EU-Staaten mit einer ähnlich großen eigenen Bevölkerung wie Frankreich, wo bisher ganze 15.000 Menschen aus Ex-Jugoslawien Aufnahme fanden, oder Großbritannien mit lediglich 2.000 Flüchtlingen steht Deutschland zweifellos gut dar. Doch hat etwa die Schweiz bei einer Eigenbevölkerung von nur sechs Millionen Menschen 25.000 Flüchtlinge untergebracht und damit zumindest proportional etwa so viele wie Deutschland. Und für die Wirtschafts- und Sozialstruktur Albaniens, das als das Armenhaus Europas gilt, sind die bislang aufgenommenen 3.000 Flüchtlinge mindestens eine so starke Belastung wie die 350.000 für Deutschland.
Doch unabhängig von all den Zahlen und bisherigen Leistungen einzelner Staaten: Ginge es bei der Verlegung künftiger Flüchtlinge ins europäische Ausland nach deren Bedürfnissen nach Unterbringung bei Verwandten oder Freunden, steht Deutschland weiterhin ganz oben auf der Wunschliste. In Deutschland sind seit den sechziger Jahren mit großem Abstand die meisten Menschen aus Ex-Jugoslawien ansässig. Erste Priorität hat für das UNHCR die schnelle und sichere Unterbringung solcher Flüchtlinge, die in Srebrenica und Žepa Opfer von Folter, Vergewaltigung und anderen Kriegsverbrechen wurden und traumatisiert sind – ähnlich wie nach der Öffnung der berüchtigten Internierungslager der Karadžić-Serben Anfang 1993. Damals fand das UNHCR für alle 28.000 Menschen, die in diesen Lagern oder bereits vor ihrer Internierung während der Vertreibung aus ihren Dörfern Opfer von Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen wurden, in relativ kurzer Zeit Aufnahmeplätze. In der UNHCR-Zentrale hofft man, daß dies auch in den nächsten Wochen wieder gelingt. Andreas Zumach, Genf
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen