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Sarajevo, im Grunde weit weg

Schon 1913 berührten die Grausamkeiten die Europäer kaum  ■ Von Alix van Buren

„Welche Schande für unsere Zivilisation, welch grauenhafte Demonstration unserer Ohnmacht!“ meldete entsetzt der Baron d'Estournelles de Costant in seinem Bericht nach Washington. Anfang 1913, das Attentat von Sarajevo war noch in weiter Ferne, war eine Gruppe europäischer Intellektueller pazifistischer Ausrichtung im Auftrag der Carnegie Foundation von Paris aus auf den Balkan gereist. Die von US-Industriellen ins Leben gerufene Stiftung hatte die Gruppe auf eine höchst gefährliche Reise nach Belgrad geschickt: Ziel der Mission war es, die in den damaligen Zeitungen seit zwei Jahren groß herausgestellten Berichte über „ethnische Säuberungen“ und fürchterliche Grausamkeiten zu überprüfen.

D'Estournelles vermerkte in seinem Bericht nach Washington umfänglich, wie sehr alles stimme, er sei in „schreckliche Horrorszenen“ geraten. Auch seine Mitreisenden meldeten in ihre Heimatländer, daß es „kaum Hoffnung auf eine Zukunft in dieser Region“ gebe, die völlig zersetzt sei vom nationalistischen Haß und beschämenden Grausamkeiten. Doch das Entsetzen des französischen Barons war den Ansprechpartnern zu Hause, wie auch im übrigen Europa, kaum vermittelbar. Man glaubte ihm zwar, aber es berührte nicht — ganz so wie heute, wo die Schreie der Frauen von Srebrenica und die verstörten Gesichter der Kinder über die Fernsehschirme flimmern, ohne den großen Aufschrei auszulösen. Auch damals stellte sich die Frage, ob man bereit sei, Bosnien mit militärischen Mitteln zu helfen.

In allen europäischen Ländern nahezu das gleiche Bild: Interventionisten und Neutralisten halten sich in etwa die Waage, doch drum herum dominiert Gleichgültigkeit und Schulterzucken. Heute wie vor achtzig Jahren herrscht, auch bei den mitunter gedankenlosen, ohne große Argumente drauflosschreibenden Befürwortern wie Gegnern einer Intervention, die Einstellung vor, Sarajevo sei doch im Grunde ziemlich weit weg.

D'Estournelles hatte sich hierzu ebenfalls schon Gedanken gemacht. Diese Gegenden, schreibt er, seien von den Franzosen und Deutschen, den Italienern und Spaniern seit jeher als etwas angesehen worden, was „faktisch gar nicht viel mit Europa zu tun habe, etwas, das anders sei als der Rest des Kontinents“. Seinerzeit betrachtete man die Region als türkisch, heute als von den Kommunisten desolat zurückgelassen, in beiden Fällen jedenfalls so, daß „echte“ europäische Mentalität nicht viel damit zu tun habe. So als handle es sich um ein Volk von einem anderen Kontinent, das sich hier nun mal eingenistet habe, das man aber in keiner Weise verstehen und dem man daher auch kaum helfen könne, seine internen Konflikte zu lösen.

Und so sah sich der Beobachter von damals mit denselben Tragödien konfrontiert wie heute: Die siegreichen Serben zerstörten Dörfer und Städte, die besiegte Bevölkerung wurde vertrieben oder getötet, ihre Häuser abgefackelt. D'Estournelles berichtet von vergewaltigten und brutal zu Tode gefolterten Frauen, die Männer im waffenfähigen Alter verschleppt oder gleich hingerichtet. Und er schreibt von nicht enden wollenden Kolonnen von Flüchtlingen ohne alles Hab und Gut entlang der Eselspfade der Berge, auf der Suche nach einer sicheren Bleibe.

Die unbeirrbare Hoffnung auf den Frieden erschien schon damals, und natürlich noch mehr nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs just nach den Vorgängen in Sarajevo, vielen Menschen naiv. Und sie erscheint heute vielleicht noch naiver. Verzagt vermerkt D'Estournelles am Ende: „Natürlich fragt sich so mancher: Haben wir denn nicht schon zu Hause genug Probleme? Das stimmt, zweifellos. Doch meine Unzulänglichkeit als Mensch darf mich doch nicht daran hindern, mich in der besten mir möglichen Form nützlich zu machen.“

Immerhin: Trotz der Art, wie der französische Balkanreisende seinerzeit isoliert war und auch später belächelt wurde, hat die Carnegie Stiftung es für richtig befunden, den Rapport gerade in diesen Tagen erneut herauszugeben. Das Vorwort zu „Other Balkan Wars“ (Brooking Publications) schrieb George F. Kennan, einer der besten Kenner Europas, lange Zeit in Berlin, Botschafter in Moskau und in Belgrad: „Vielleicht hilft uns der Rückblick auf diese historischen Parallelen heute, die Dinge etwas präziser zu betrachten“, schreibt er, „und vor allem eines: daß sich die Krise auf dem Balkan mit Sicherheit nicht von alleine löst. Die Grausamkeit des aktuellen Krieges wird Wunden verursachen, die bei allen Völkern ringsherum auf lange Zeit nicht vernarben. Europa wird sich, ob es will oder nicht, darauf einstellen müssen.“

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