: Was passiert, wenn Deng Xiaoping stirbt?
■ Der langjährige China-Korrespondent Edgar Bauer analysiert die unberechenbaren Kräfte, die das Schicksal des Landes in Zukunft bestimmen
Mit einem leicht genervten Stöhnen antworten heutzutage ZeitungskorrespondentInnen in China, wenn ihre Redaktionen aus dem Ausland anrufen und wieder einmal fragen: „Und ... lebt er noch?“
Seit Jahren wird der mächtigste Mann Chinas, der 90jährige Deng Xiaoping, immer wieder totgesagt, sein baldiges Ableben prophezeit. Dann fallen jedesmal die Aktienkurse in Hongkong, und kurz darauf erklärt eine Tochter Dengs, ihrem Vater ginge es seinem Alter entsprechend normal. Diese erhellende Auskunft führt zu weiteren Spekulationen: In den internationalen Medien erscheinen Berichte über Hinweise auf einen Machtkampf in der chinesischen Parteiführung; „aus Kreisen des US-amerikanischen Verteidigungsministeriums“ hört man die Sorge, daß es zu Unruhen in der Bevölkerung des Riesenreiches kommen könnte; und China- Experten orakeln in Funk und Fernsehen über die Möglichkeit, daß eine drei- oder vierköpfige Führungsgruppe die Nachfolge des alten Mannes antreten wird. Zum Schluß bitten dann die Heimatredaktionen ihre KorrespondentInnen, den Urlaub doch noch einmal zu verschieben.
Was aber geschieht, wenn Deng wirklich „zu Marx geht“, wie er es einmal selbst formulierte?
Der ehemalige Pekinger Bürochef der deutschen Nachrichtenagentur dpa, Edgar Bauer, kommt in seinem kürzlich erschienenen Buch „Die unberechenbare Weltmacht: China nach Deng Xiaoping“ zu folgendem Schluß: Zunächst wird kaum etwas passieren. Denn die rivalisierenden Fraktionen innerhalb der chinesischen Kommunistischen Partei wissen genau, daß sie sich durch einen offenen Machtkampf selbst gefährden würden. „Die Einsicht, daß man als herrschende Klasse letztlich in einem Boot sitzt, dürfte zunächst für Zusammenhalt sorgen.“ Wie nach dem Tode von Dengs großem Vorgänger Mao Zedong – kommt es nach Ansicht Bauers zu einer Übergangsphase. In dieser Periode wird wahrscheinlich auch der gegenwärtige Staats- und Parteichef Jiang Zemin, der zusätzlich Chef der mächtigen Militärkommission der Partei ist, weiter auf seinem Posten bleiben. Die geneigte LeserIn sollte sich am Anfang des kenntnis- und faktenreichen Buches nicht davon abschrecken lassen, daß der Autor seinen Zorn über all jene ergießt, die sich von den „Glitzerfassaden der schönen neuen Konsumwelt“ in den Geschäftsstraßen von Peking oder Schanghai blenden lassen. Ignorieren sollte er ebenfalls so krude Formulierungen wie: „ungeachtet des Festhaltens an maroden Staatsbetrieben läuft die Arbeitslosigkeit zusehends aus dem Ruder“. Einfach weiterlesen!
Edgar Bauer, der von 1987 bis 1993 in China arbeitete, untersucht unter anderem die Rolle der Kommunistischen Partei mit ihren heute 54 Millionen Mitgliedern, die sich von ihrer Parteizugehörigkeit Privilegien und bessere Aufstiegschancen versprechen. An ihrer Spitze stehen die großen Familien, zu denen auch der Deng-Clan gehört, die ihren Kindern Positionen in Politik und Wirtschaft verschafft haben, die es ihnen erlauben, immense Vermögen anzuhäufen. Zu den hervorragendsten Propagandaleistungen dieser Partei gehört es, ihre eigenen Mitglieder ebenso wie die Bevölkerung des Landes davon zu überzeugen, daß es keine Alternative gibt: Ohne die Partei würde das Land auseinanderbrechen oder in Chaos versinken. In dieser Logik darf Reformen nur fordern, wer die absolute Herrschaft der Organisation stärken will.
Der Autor, der 1989 vom Tiananmen-Platz berichtete, zeigt in seinem Buch auch wie es denen geht, die diese absolute Herrschaft nach Ansicht der chinesischen Behörden in Frage stellen.
Er beschreibt das Schicksal von Regimekritikern – die sich in den seltensten Fällen für eine Abschaffung der Partei eingesetzt haben. Bemerkenswerterweise teilen viele Dissidenten die Ansicht von Partei-Reformern, daß China nicht eine westliche Demokratie brauche, sondern ein „gutes“ autoritäres Regime. Die von Korruption, regionalen Rivalitäten und Fraktionskämpfen geschüttelte Partei wird sich eher selbst zerstören als durch politischen Druck von außen untergehen, meint Bauer. Trotz wachsender Unzufriedenheit unter den 800 Millionen BäurInnen, trotz der dramatischen Arbeitslosigkeit und Verarmung der traditionellen städtischen Arbeiterschaft sowie der Intellektuellen gibt es keine organisierte politische Opposition. Anders als in Osteuropa ist in China keine Zivilgesellschaft entstanden. Gleichzeitig gibt es keinerlei Hinweis darauf, daß sich das Militär als eigenständige politische Kraft bereit macht, nach dem Tode Dengs die Macht zu übernehmen.
Niemand weiß, wohin der Weg für die „unberechenbare Weltmacht“ China geht. „Ein mit sich selbst mühsam ums Überleben und um Fortschritt ringendes China ist eine weit realistischere Aussicht als eine politisch und gesellschaftlich geeinte Supermacht, die mit immer neuen Wirtschaftswundern und überragender militärischer Stärke die übrige Welt herausfordern oder gar ein ,chinesisches Zeitalter‘ der Weltgeschichte einläuten könnte“, resümiert Bauer.
Ein sehr informatives Buch! Jutta Lietsch
Edgar Bauer: Die Unberechenbare Weltmacht: China nach Deng Xiaoping, Ullstein, Frankfurt am Main 1995, 424 S., 48 Mark
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen