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Bosnische Konsequenz

■ Auszüge des Briefes, den Joschka Fischer gestern an die Bundestagsfraktion und die Partei Bündnis 90/Die Grünen schickte

Liebe Freundinnen und Freunde,

spätestens mit der Geiselnahme der Blauhelme und der Eroberung der moslemischen Enklaven und „Schutzzonen“ der Vereinten Nationen in Ostbosnien durch das bosnisch-serbische Militär ist die bisherige Bosnienpolitik des Westens und der Vereinten Nationen in seinem politisch-militärischen Teil gescheitert. In Bosnien zeichnet sich ein Sieg derjenigen ab, die auf brutale und grausame Gewalt setzen, während sich die Politik der Friedensbewahrung als hilflos und die sie tragenden Vereinten Nationen sich als uneinig, deshalb nahezu handlungsunfähig und in ihren politischen Absichten mindestens als doppelbödig (um es ganz milde zu formulieren) erweisen.[...]

Diese bittere Erkenntnis zwingt deshalb jetzt alle, die sich bisher in ihrer Politik positiv auf den UN- Einsatz in Bosnien bezogen haben, zu einer grundsätzlichen Überprüfung und Neupositionierung ihrer Politik. Unsere Partei Bündnis 90/Die Grünen hat bei aller Kritik im Einzelfall immer den UN-Einsatz unterstützt, nachdrücklich und mit guten Gründen gegen einen Abzug argumentiert und aus diesem Grund eine Fortsetzung des UN-Einsatzes verlangt. Deshalb müssen auch wir uns heute fragen: Wie soll es weitergehen in Bosnien, wenn der bisherige UN-Einsatz gescheitert ist? Heißt das den Abzug der Blauhelme? Heißt das eine Beendigung des Waffenembargos und Lieferung von schweren Waffen an die bosnische Regierungsarmee? Oder heißt das im Gegenteil jetzt seine Fortsetzung als militärische Intervention der Vereinten Nationen zum Schutz der Schutzzonen ohne Wenn und Aber?

Das Schlimme und für die Zukunft Hochgefährliche an der gegenwärtigen Situation liegt darin, daß aus heutiger Sicht alle drei Varianten eine Ausdehnung des Krieges, weitere Blutbäder und weitere zahllose Opfer bedeuten werden. Eine Opfer und Gewalt vermeidende politische Alternative in der gegenwärtigen Lage in Bosnien ist nicht in Sicht, und diese bittere Tatsache muß gerade eine gewaltfreie Partei herausfordern.[...]

In diesen Tagen hört man hierzulande immer wieder in den zahllosen Debatten um Bosnien und die notwendigen Konsequenzen: „Man müßte ...“ Ja, vermutlich hätte „man“ schon längst gemußt, wenn es denn „man“ gäbe! Wer verbirgt sich denn hinter diesem „man“? Wer ist also das Subjekt aller theoretisch erörterten Lösungen? Die Vereinten Nationen? Nein, die entscheidende Rolle von außen spielen im Bosnienkonflikt die USA, die wichtigsten europäischen Mächte mit Frankreich, Großbritannien und Deutschland vorneweg, und schließlich Rußland. Der Kern der Tragödie der jugoslawischen Sezessionskriege liegt neben dem Nationalismus der beteiligten Völker in der Tatsache, daß kaum eine der äußeren Mächte gemeinsame Interessen bei der Lösung des Konfliktes verfolgt. [...]

Der fundamentale Irrtum in der ganzen Jugoslawienpolitik führt gleichzeitig hin zu dem eigentlichen Problem des gegenwärtigen Bosnienkrieges, nämlich zu der Frage nach einer politischen Lösung. Es ist zwar einerseits angesichts der täglich durch die elektronischen Medien gelieferten Schreckensbilder und -nachrichten nur allzu verständlich, daß gegenwärtig kaum jemand in der westlichen Öffentlichkeit die alles entscheidende Frage nach dem möglichen politischen Ergebnis dieses Krieges aufwirft, andererseits demonstriert dieses offensichtliche politische Defizit an klar definierten und erreichbaren Zielen das ganze Dilemma der westlichen Politik auf dem Balkan. Allein das Entsetzen über die Barbarei des Krieges und der „ethnischen Säuberungen“ schafft noch keine politisch tragenden Lösungen. Was soll eigentlich am Ende dieses ganzen Mordens auf dem Balkan an politischem Ergebnis stehen? Großserbien und in dessen Windschatten ein verkleinertes Kroatien, reduziert um die serbisch besetzten Gebiete in der Krajina und Knin, und erweitert um die kroatisch-bosnischen Teile? Bosnien in seinen anerkannten Grenzen? Oder ein moslemisches Rumpfbosnien, eine Art Super-Gaza, ein politisch und ökonomisch nicht lebensfähiges Elendsgetto der bosnischen Muslime auf europäischem Boden? Oder gar eine erneuerte jugoslawische Föderation?

Wenn man die sezessionistische Variante, für die der Krieg geführt wird, bis zu ihren Schlußergebnissen durchdekliniert, so wird der ganze blutige Irrsinn des gegenwärtigen Krieges politisch offenbar: Serbien wird den Krieg gewinnen, denn weder Frankreich noch England noch gar Rußland (und auch nicht die USA) werden auf den „serbischen Ordnungsfaktor“ nach der Auflösung Jugoslawiens in dieser Region verzichten. Für die Westmächte und Rußland bleibt ein starkes Serbien die zweitbeste Lösung zur Lösung der Konflikte auf dem Balkan, das muß man in Deutschland endlich zur Kenntnis nehmen. [...]

Europa ist fünf Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges und fünfzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht wiederzuerkennen. Der Krieg ist mit all seiner Grausamkeit und Barbarei zurückgekehrt und tobt auf dem Balkan. Mit Krieg, mit einer brutal rücksichtslosen Skrupellosigkeit und dem Tod und Elend Hunderttausender unschuldiger Menschen scheinen im Europa des Sommers 1995 erfolgreich wieder Grenzen gezogen und mit völkischer Politik erneut politische Fakten geschaffen werden zu können. [...]

Wenn sich diese Politik des Krieges und des Mordens in Bosnien erfolgreich durchsetzen wird, dann wird dies weit über den Balkan hinaus für Europa anhaltend schlimme Konsequenzen haben. Gerade eine auf Gewaltfreiheit und Ächtung der Gewalt beruhende Politik ist davon ganz besonders betroffen, denn wenn der Krieg wieder zu einem erfolgreichen und durchsetzungsfähigen Mittel der europäischen Politik wird, dann kann man eine gewaltfreie Zukunft der europäischen Nationen schlicht vergessen. In Bosnien geht es deshalb auch um fünfzig Jahre Integrationsfortschritt und Frieden in Europa. [...]

Auch wir [Bündnis 90/Die Grünen] werden uns angesichts des bosnischen Dramas sehr genau und mit großer Ehrlichkeit zu überlegen haben, was die Konsequenzen unserer Position sind, und wie weit wir sie tatsächlich durchhalten können. Die Mehrheit in Partei und Fraktion hat sich bisher nachdrücklich für das UN-Embargo, für humanitäre Hilfe und für die Aufrechterhaltung des Blauhelmeinsatzes ausgesprochen. Wir waren gegen eine Beteiligung Deutschlands mit Kampfverbänden in Bosnien, weil wir, bedingt durch das Wüten der deutschen Wehrmacht im ehemaligen Jugoslawien während des Zweiten Weltkrieges, dadurch eine Verschärfung des Konflikts und nicht seine Dämpfung befürchten. Und wir sehen mit großem Mißtrauen und Sorge, wie seitens der Bundesregierung Schritt für Schritt versucht wird, Deutschland wieder zu einer militärisch gestützten, machtorientierten Außenpolitik zurückzuführen. Aber auch uns wird angesichts des Scheiterns der bisherigen Friedensmission der UN-Blauhelme in Bosnien ein erneutes und sehr grundsätzliches Nachdenken nicht erspart bleiben.

Können Pazifisten, kann gerade eine Position der Gewaltfreiheit den Sieg der brutalen, nackten Gewalt in Bosnien einfach hinnehmen? Was ist zu tun, wenn alle bisherigen Mittel schlicht versagt oder zumindest nicht gegenüber der militärischen Gewalt ausreichend gewirkt haben? Sind wir dann für Abzug? Ein Abzug der UN wird den bosnischen Krieg mit hoher Wahrscheinlichkeit verschärfen, ja vieles spricht in diesem Fall für die Ausweitung des Krieges. Mit Sicherheit wird er aber zu einem Ende auch des humanitären Teils des UN-Einsatzes führen, und das hätte für die Zivilbevölkerung in Bosnien katastrophale Folgen. Die jeweils schwächere Seite in diesem Kampf wird zudem alles tun, um den Krieg zu internationalisieren, und das birgt für Europa ein erhebliches Kriegsrisiko. Genau hierin liegt der Grund, warum sich Europa gegenüber Bosnien nicht verhalten kann, wie zum Beispiel gegenüber dem Sudan oder Afghanistan. Es ist nicht allein eine Frage der geographischen Nähe oder Ferne, sondern aus der Lage ergibt sich auch ein wesentlich anderes politisches Gefährdungspotential für die näheren und ferneren Nachbarn. Eine Strategie der Isolierung und des Nichteinmischens, faktisch also eine „Strategie des Ausblutens“ des Krieges, würde Europa mit enormen Sicherheitsrisiken konfrontieren. Es würde aber einen solchen Zynismus auch moralisch nicht durchstehen. Ein Abzug der UN wäre zudem eine historische Niederlage für die Weltorganisation, eine Niederlage für alle, die auf eine Internationalisierung der nationalen Machtpotentiale durch die UN gesetzt haben und auf deren transnationale Möglichkeiten zur internationalen Konfliktlösung. Die Konsequenz aus dem Scheitern der UN wäre nicht nur ein Sieg der nackten Gewalt, sondern daraus würde weltweit auch die Erkenntnis gezogen, daß man im Ernstfall die Vereinten Nationen vergessen könne, wie Bosnien gezeigt habe, und daß dann eben allein das Setzen auf nationale Stärke zähle. Nationale Machtpolitik und nicht Internationale Konfliktlösung durch die UN wird die Schlußfolgerung aus einem Abzug der UN heißen.

Und so stellt sich heute erneut, nach sechzig Jahren, für Europa die Frage: Wo hört die Nachgiebigkeit gegenüber einer Politik der Gewalt auf? Läuft die deutsche Linke jetzt nicht massiv Gefahr, ihre moralische Seele zu verlieren, wenn sie sich, egal mit welchen argumentativen Ausflüchten, vor diesem neuen Faschismus und seiner Politik der Gewalt wegduckt?

Können wir Prinzipien höher stellen als Menschenleben, und was wird aus unserem Prinzip der Gewaltfreiheit, wenn es sich vor der menschenverachtenden Gewalt beugt? Wie muß sich eine gewaltfreie Partei, die sich in ihrem Gründungsprogramm zum Notwehrrecht klar und eindeutig bekennt, in diesem Konflikt zwischen Notwehrrecht und Gewaltfreiheit verhalten? Das Notwehrrecht umfaßt Leben und Freiheit, die Voraussetzung für alle Gewaltlosigkeit. Die bosnischen Muslime kämpfen gegenwärtig um das nackte Überleben als Menschen und als Kultur, und deshalb kann ihnen niemand das Notwehrrecht absprechen. Kann man ihnen dann aber die Notwehrhilfe versagen? So argumentieren gegenwärtig viele innerhalb und außerhalb unserer Partei.

Andere halten dem die Aufgabe und die Pflicht einer Opposition entgegen, selbst unter schwierigsten Bedingungen die gewaltfreien Alternativen nicht aufzugeben. Was, so wird gefragt, wird in Deutschland geschehen, wenn sich auch die Bündnisgrünen für den kriegerischen Militäreinsatz in Bosnien aussprechen? Gibt es dann hierzulande noch ein Halten in der Relegitimierung des Militärs und der militärisch gestützten Außenpolitik? Räumen wir dadurch nicht unsere pazifistischen Grundsätze und damit eine politische Grundüberzeugung, die für uns und für viele unserer WählerInnen zum unveräußerlichen Bestandteil der Bündnisgrünen gehören?

Zudem wird von dieser Seite ja zu Recht darauf hingewiesen, daß angesichts der völligen Unklarheit der politischen und militärischen Ziele, Bosnien im Falle einer erweiterten westlichen Militärintervention zu einem Sumpf zu werden droht, in den man immer tiefer hineingerät, ohne allerdings sich dem Frieden und einer politischen Lösung dabei zu näheren.

Warum soll man also von seinen elementarsten Grundsätzen angesichts all dieser riesigen Fragezeichen abrücken, um am Ende nicht nur seine Grundsätze aufgegeben zu haben, sondern darüber hinaus noch die Mitverantwortung für eine aussichtslose militärische Verstrickung mit all ihren Opfern in Bosnien mitübernehmen zu müssen, ohne daß ein Friede deshalb nähergerückt wäre? Man hätte dann doppelte Schuld auf sich geladen. [...]

Es geht dabei nicht einmal in erster Linie um die Rolle Deutschlands, denn für unser Land gilt nach wie vor, daß wir zu einer Lösung des Konflikts auf dem Balkan gegenwärtig wenig bis gar nichts beitragen können, sehr viel aber zu seiner Verschärfung, wenn wir uns dort verstärkt einmischen. [...]

Die Gewaltfreiheit der Friedensbewegung hat sich gegen die thermonukleare Massenvernichtungsdrohung, gegen die Logik der nuklearen Abschreckung entwickelt. Der Nuklearpazifismus ist die notwendige und richtige Antwort auf diese globale Vernichtungslogik gewesen. Wie verhält es sich aber mit den Schrecken des „ethnischen Krieges“, der himmelschreienden Unterdrückung und der brutalen Vertreibung? Was ist unsere Antwort, wenn wir es plötzlich wieder mit Mächten und politischen Kräften, ja mit Menschen zu tun haben, die sich einen Dreck um internationale Regeln, um Menschenrechte oder gar Gewaltfreiheit kümmern? Die nationalistisch-völkisch denken und handeln, die eine fast schon perverse Lust am Töten haben? Wie also geht eine Politik der Gewaltfreiheit mit dieser neuen Form von Faschismus um, denn genau darum handelt es sich? [...]

Ein Durchlavieren, eine Haltung des „Wir sind entsetzt, ansonsten schauen wir aber lieber nicht hin“, kommt angesichts der bosnischen Katastrophe für unsere Partei nicht in Frage. Entweder sind wir für den militärischen Schutz der Schutzzonen, wissend auch um die ganze Unzulänglichkeit der westlichen Bosnienpolitik und ihrer Risiken – und ich bin der Überzeugung, wir müssen angesichts der Lage der dort eingeschlossenen Zivilbevölkerung für den militärischen Schutz der UN-Schutzzonen sein –, dann müssen wir dies als Partei auch sagen, ausdiskutieren und beschließen. Oder wir lehnen diesen militärischen Schutz ab, und dann sollten wir uns für den Abzug der UN-Blauhelme aussprechen. Die Folgen dieses Schrittes sind ebenfalls bekannt. Allerdings wird die Welt (und damit auch wir) in diesem Fall den bosnischen Regierungstruppen die notwendigen Waffen für ihre Selbstverteidigung nicht länger vorenthalten dürfen.

Gewiß, die Bündnisgrünen haben sich die Diskussion über Bosnien in der Vergangenheit alles andere als leicht gemacht, und die Beschlußlage ist klar. Aber das hilft gegenwärtig kaum weiter. Denn die Lage in Bosnien hat sich derart massiv zugespitzt und dramatisch verändert, daß deren neue Bewertung und die daraus zu ziehenden Konsequenzen nicht allein bei Fraktion und Bundesvorstand belassen werden können. Dies geht die ganze Partei an.

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