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Schwere Vorwürfe gegen Nazi-Arzt

■ Ex-Präsident der Bundesärztekammer der Beihilfe zum Mord an 39 Kindern bezichtigt

München/San Francisco (AFP) – Der ehemalige deutsche Ärztefunktionär Hans Joachim Sewering soll im Sommer 1944 Beihilfe zum Mord an 39 behinderten Kindern geleistet haben. Diesen Vorwurf erhob gestern der in San Francisco lebende jüdische Mediziner Michael Franzblau. Sewering sei 1944 der verantwortliche Arzt des Pflegeheims Schönbrunn gewesen. Von dem Massentransport der Kinder in die „Euthanasie“- Anstalt Eglfing-Haar müsse er gewußt haben. Der amerikanische Arzt beruft sich auf Informationen, die ihm von der Leitung des Schönbrunner Heims zugespielt worden seien, und auf Hinweise eines Juristen.

Sewering, von 1973 bis 1978 Präsident der Bundesärztekammer, hatte 1993 seine Bewerbung für den Vorsitz des Weltärztebundes zurückgezogen, nachdem seine NS-Vergangenheit öffentlich angeprangert worden war. Er praktiziert heute als Arzt in Dachau.

Die zuständige Staatsanwaltschaft in München hat bislang kein förmliches Ermittlungsverfahren gegen Sewering eingeleitet. Zur Begründung sagte der zuständige Oberstaatsanwalt, der Arzt habe glaubhaft versichert, von den Euthanasie-Fällen in Eglfing-Haar nichts gewußt zu haben. Sewerings Unterschrift unter einer Verlegungsanordnung wurde bisher erst in einem Fall bekannt: 1943 hatte er als Assistenzarzt den Transport eines geistig behinderten 14jährigen Mädchens angeordnet. Das Mädchen wurde in Eglfing-Haar binnen zwei Wochen mit dem Schlafmittel Luminal vergiftet.

Laut Franzblau liegen jetzt jedoch weitere Beweise vor. Noch heute existiere in Haar das Buch über Zu- und Abgänge aus der Zeit, in der Sewering verantwortlicher Arzt gewesen sei. Detailliert beweise es die Ermordung der Kinder. Von Schönbrunn aus seien 21 Jungen und 23 Mädchen in zwei Transporten am 2. und 3. Juni 1944 in die Mordanstalt Haar gebracht worden. Innerhalb von zwei Wochen seien dort laut Patientenkartei 39 dieser Kinder ermordet worden, zumeist durch hohe Dosen Luminal.

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