: "Blavatzkys Kinder" - Teil 18 (Krimi)
Teil 18
Er legte den vorbereiteten Plastiksprengstoff unter den Schreibtisch und kontrollierte den Zeitzünder. In zehn Minuten war Paul Sarkowsky nicht nur all seine Daten los, sondern auch seine Wohnung.
Die beiden Fenster waren geborsten, tiefe schwarze lichtlose Löcher. Nur im Erdgeschoß brannte Licht, ansonsten war das Haus dunkel. Miriam klingelte bei Paul. Sie blickte die verrußte Fassade nach oben. Überall Pfützen. Im Vorgarten. Auf dem Bürgersteig. Dunkles, stinkendes Wasser. Irgendwo lief ein Fernsehgerät. Sie klingelte bei irgendwem im Erdgeschoß.
„Hallo!“ sagte eine Stimme hinter ihr.
Sie drehte sich um.
„Paul!“ Sie lachte erleichtert und umarmte den schmalen, blassen jungen Mann. Er war etwas jünger als sie und ein Stück kleiner. Er trug eine blaßgrüne Stoffkappe auf seinen braunen Haaren, eine runde Brille mit rotbrauner Einfassung und eine bunte Stoffjacke. Er lächelte verlegen.
„Geht's dir gut? Was ist passiert? Wer war das?“ rief Miriam. „Wo übernachtest du?“
„Bei Freunden auf der anderen Straßenseite. Komm mit.“
Paul goß Tee ein.
„Nachdem du aus Wien angerufen hast, habe ich überlegt, wie ich dir helfen kann. Mir ist einfach nicht eingefallen, wo ich schon einmal Hinweise auf den Kinderhandel gefunden habe. Ich habe meinen Computer in den Rucksack gepackt und bin zu einem Freund gelaufen, der ein Riesenarchiv hat. Ein altertümliches Zeitungsarchiv. Der klebt Zeitungsartikel noch auf Papier, stell dir das mal vor.“ Paul grinste. „Zusammen haben wir schon einige Fälle geknackt. Er war zu Hause, er ist meistens zu Hause. Wir haben die ganze Nacht gesucht. Ich habe Anhaltspunkte in seinem Archiv gefunden. Ich habe sie mit Daten auf meiner Festplatte abgeglichen. Ich glaube, wir haben ein paar schwache Hinweise für dich.“
„Wer hat ein Interesse, dich umzubringen?“
„Ich habe lange darüber nachgedacht. Ich weiß es nicht. Vielleicht irgendwelche Faschos.“
„Warum?“
„Wir stecken mitten in den Vorbereitungen für Wunsiedel.“
„Wunsiedel?“
„Miriam, du blindes Huhn. Jedes Jahr im August finden anläßlich des Todestages von Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß in Wunsiedel – das ist in Bayern – große Naziaufmärsche statt. Und jedes Jahr fahren Antifagruppen hin, um das zu verhindern.“
„Wenn das jedes Jahr stattfindet, warum sollten sie ausgerechnet diesmal einen Anschlag auf dich verüben?“
„Wir haben seit einiger Zeit den Verdacht, daß es denen dieses Jahr um mehr geht. Wir wissen nichts Genaueres, aber unsere Informanten sagen, daß der Aufwand, die Geheimnistuerei und die Vorbereitungstreffen aufwendiger als je zuvor sind.“
Sie verabredeten sich für den Abend in Pauls derzeitigem Quartier. Sie bemerkten den Lieferwagen mit der Aufschrift Clean up- Reinigungsdienst nicht, aus dem sie beobachtet wurden.
„Sehr groß. Ungefähr einsachtzig. Dunkle Haare. Schlank. Mitte oder Ende Zwanzig. Attraktiv. Jeans. Wahrscheinlich auch eine Zecke. Hat zu unserem Objekt eine enge Beziehung. Körperliche Kontakte. Wir kennen ihren Namen nicht“, lautete die Beschreibung, die der Mann im Lieferwagen an die Zentrale durchgab. „Was? ... Ja, wird gemacht!“ Der Lieferwagen setzte sich in Bewegung. Die Insassen hatten Glück. Miriam ging nach Hause. Während sie ihre Wohnungstür aufschloß, studierte ein dicker, kleiner Mann die Türklingeln.
In ihrer Wohnung lauerte der Anrufbeantworter mit vier Nachrichten. Miriam nahm Stift und Zettel aufs Klo, um in Ruhe mitzuschreiben. Die Werbeagentur Root, Kane & Fielding wollte sie für einen Prospekt engagieren. Eilauftrag. Viel Knete, schlußfolgerte sie zufrieden und notierte die Telefonnummer der Mitarbeiterin, die um einen Rückruf bat. Ihre Mutter wollte wissen, wie der Urlaub gewesen war. Der dritte Anruf brachte sie in Bewegung.
„Habe mich ohne dich gelangweilt. Fahre jetzt Richtung Frankfurt. Äh, Hamburg. Kann ich eventuell bei dir übernachten? Wenn nicht, macht's auch nichts. Tschüs. Robert.“
Der vierte: „Hier noch mal Robert. Hab' vergessen zu sagen, wann ich ankomme. Bin gegen neun bei dir. Wenn du nicht zu Hause bist, suche ich mir ein Quartier und rufe später am Abend noch mal an.“
Neun Uhr? Es war kurz nach acht Uhr, und ihre Wohnung sah aus, als wären die Schränke explodiert.
Fortsetzung folgt
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