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Die Spur des Steines

Poltert seit 20 Jahren unbegradigt durch die Rockmusik: David Thomas, Kopf von Pere Ubu. Mit „Ray Gun Suitcase“ sind sie mal wieder die wichtigste Band nördlich von Alfred Jarry und südlich von Mark Twain  ■ Von Christoph Wagner

Man hat ihn in einem Atemzug mit Captain Beefheart genannt. Gut, sein Stimmorgan legt den Vergleich nahe, und etwas von einem Captain hat er auch. Aber damit sind die Analogien auch schon erschöpft.

Der amerikanische Rocksänger David Thomas ist ein Kaliber für sich – schon wer ihn einfach „Rocksänger“ nennt, bewegt sich auf schwankendem Terrain. In den Siebzigern hat Thomas mit seiner Formation Pere Ubu die Straßenästhetik des Rock'n'Roll für die „Avantgarde“ erschlossen und damit Beachtung über die New- Wave-Zirkel hinaus gefunden. Aber auch mit der Avantgarde ist die Sache nicht mehr so einfach ...

Pere Ubu ist heute das, was man eine Kultgruppe nennt – und ist dennoch eine Außenseiterformation im Popbetrieb geblieben. „Wir haben früher nicht hineingepaßt, passen auch heute nicht hinein und werden wohl nie hineinpassen“, umreißt der schwergewichtige Exzentriker, der wegen seines impulsiven Temperaments gefürchtet ist, den Standort.

Der Mann mit dem Strahlengewehrkoffer

Zwanzig Jahre gibt es Pere Ubu schon, „Ray Gun Suitcase“ lautet der Titel des Jubiläumsalbums. Durch die suggestive Kraft der Songs und die Sicherheit im Umgang mit der erarbeiteten Formsprache knüpft es an die besten Zeiten der Band an. Es ist eine Art musikalisches Reisetagebuch, das in verschiedenen Lied-Episoden Impressionen einer Reise ins Mississippidelta nachzeichnet, die gleichzeitig eine Fahrt ins Labyrinth menschlicher Seelenzustände ist. In flüchtigen Bildern und Szenen, die sich mit Erinnerungen und Traumsequenzen mischen, wird man auf staubigen Landstraßen unter einem „roten Himmel“ durch die „Heimat des Blues“ geführt. Man kommt durch Geisterstädte, macht halt in Memphis, schaut von einem Bergvorsprung auf das „leere Dunkel der Lagerfeuer der Vorstädte“ hinab – und erreicht schließlich die Bayous am Golf von Mexiko.

Sweet home Cleveland, Ohio

Dort quäkt das Akkordeon aus den Sümpfen, die Gitarre wimmert mit dem Cello um die Wette, und der Synthesizer wirft sanfte Wellen an den Strand, während David Thomas den Mond anheult. Manchmal würgt er die Worte heraus, verdreht sie im Mund, ein andermal keucht und röchelt er oder preßt die Silben heraus. Und immer wieder verwischen sich in den Texten Realität und Fiktion. Brain Wilson und die Beach Boys spazieren mit ein paar „Surfer Girls“ durchs Bild, Elvis hängt sich die Gitarre um, und aus dem Nebel tauchen die fahlen Lichter eines Gespensterschiffs auf. Die Kindheit läßt in Gestalt von Mark Twain grüßen.

„Landschaften und ihre Menschen sind mir wichtig“, erläutert Thomas. „Ich möchte erfahren, wie sie einander gegenseitig prägen. Die Idee des Multikulturalismus ist mir zuwider. Sie kommt mir wie ein hinterhältiger Trick vor, unter dem Mantel der Menschenfreundlichkeit alles zu einem großen Brei zu vermanschen. Das Interessante an Leuten sind doch ihre Unterschiede, ihre verschiedenen Charakterzüge, die teilweise aus ihrer Kultur kommen und mit dem Platz zu tun haben, an dem sie leben.“

Für David Thomas und Pere Ubu ist Cleveland, Ohio dieser magische Ort. In der Industriemetropole am Südufer des Eriesees mit ihren abgewrackten Stahlwerken und maroden Chemieanlagen, einst die zweitgrößte ungarisch sprechende Stadt der Welt und deswegen eine Hochburg der Polkamusik, hat die Gruppe ihre Wurzeln. Von hier kommen auch alle MusikerInnen, die an der aktuellen Einspielung beteiligt waren. „Wir haben gemerkt, daß Leute, die nicht von hier sind, manche Dinge einfach nicht verstehen“, begründet David Thomas sein lokalpatriotisches Auswahlprinzip.

Magical Mystery Ubu Tours

Die Band, die ihren Namen von einem Theaterstück des Franzosen Alfred Jarry – einem Wegbereiter des absurden Theaters – geborgt hat, war im Sommer 1975 entstanden – als Ergebnis einer Ernüchterung. Für viele Jugendliche der Generation, die auf Woodstock folgte, waren die Rituale der Gegenkultur unglaubwürdig geworden. Zusammen mit dem Gitarristen Peter Laughner sagte David Thomas der Jugendrebellion adieu, um sie auf einer anderen Ebene neu zu umkreisen: trauernd, „arty“, abgeklärt naiv.

Anfangs wurden Nummern der Stooges und von Velvet Underground gecovert, auf die rasch die erste Single mit eigenem Material folgte. Ein Gig in New York führte zu einem Schallplattenvertrag, und nach Veröffentlichung des Debutalbums „The Modern Dance“ im Februar 1978 trat Pere Ubu die erste Tournee durch die USA und Europa an. In London kauften die Fans Karten für eine spektakuläre „Magical Mystery Ubu Tour“: Mit Bussen wurden sie an einen geheimen Ort gebracht, um die Musiker schließlich in einer Grotte der Kalkhöhlen von Chislehurst in Southwark spielen zu sehen.

Mit den beiden nächsten Platten festigte die Gruppe ihren Ruf, keine Eintagsfliege, sondern eine der wichtigsten Bands der experimentellen Rockszene in den USA zu sein. Allerdings drückten innere Querelen auf die Stimmung, und nach einer US-Tournee im Jahr 1979, die mit einem deprimierenden Auftritt vor einer Handvoll Zuschauer in einem Musikcasino am Strand von San Diego endete, brach die Gruppe auseinander. Mayo Thompson, der Gitarrist von Red Crayola, sprang kurzfristig ein, und auch Anton Fier von den Lounge Lizards, der später in New York die Golden Palominos gründete, war zeitweise Schlagzeuger der Band.

Die Gruppe konsolidierte sich wieder. Doch schon ein Jahr später nach dem hochgelobten Album „The Art of Walking“, das im New Musical Express als „Meisterwerk“ gepriesen wurde, eskalierten die Spannungen erneut. Jeder hatte genug. Man redete nicht mehr miteinander. Es wurde nicht mehr telefoniert. Pere Ubu war tot.

Der Ubu ist tot, es lebe der Ubu!

Heiratsbedingt siedelte David Thomas nach London über, wo er noch heute im Stadtteil East Putney wohnt, und begann an einer Solokarriere zu arbeiten. Ziel: sich vom Ballast der Rockmusik zu befreien, dabei aber nicht in der Falle der strukturlosen, „freien“ Improvisation zu enden. „Kleinere Ensembles bieten größere Möglichkeiten“, faßt er seine Erfahrungen zusammen. „Ohne Rhythmusgruppe ist man flexibler. Man muß nicht proben, kann größere Risiken eingehen und mehr der Intuition überlassen. Da mich Proben unendlich langweilen, gehen wir den Set vor dem Auftritt nur kurz durch, treffen ein paar harmonische und rhythmische Absprachen, um dann auf der Bühne zu versuchen, das Ganze wie ein Puzzle zusammenzusetzen. Das funktioniert selten nach Plan, weil man meist alles über den Haufen werfen muß. Aber es ist immer aufs neue eine Herausforderung, weil die Bühne ihre eigene Dynamik besitzt. Und die Songs halten sich auf die Weise frisch.“

In London entfaltete David Thomas vielfältige Aktivitäten. Er fand zeitweise in den Pedestrians eine neue Begleitgruppe, trat mit der Folklegende Richard Thompson auf und ging im Trio mit dem Schlagwerker Chris Cutler (Ex- Henry Cow) und dem Akkordeonisten John Kirkpatrick auf Tour, um bald selbst zur Ziehharmonika zu greifen. „Meine Frau hatte sich irgendwann einmal eine Quetsche gekauft, als sie sich für Zydeco aus Louisiana begeisterte. Ich spielte eines Tages nur so darauf und merkte, daß das gleich ganz gut ging. Genau das war es, was ich von einem Musikinstrument wollte: es einigermaßen spielen zu können, ohne viel zu üben.“

Das perfekte, verlorene Popalbum

Parallel zur Entdeckung der Handharmonika entwickelte er aber noch eine andere Obsession: Er begann sich leidenschaftlich mit Brian Wilson und den Beach Boys zu befassen: „Brian Wilson ist eindeutig ein Genie und die wichtigste Gestalt der Rockmusik überhaupt. Das ,Pet Sounds‘-Album der Beach Boys von 1966 markiert eine Wasserscheide. Es ist der Übergang des Pop von der Pubertät ins Erwachsenenalter. Brian Wilson formte aus einem modischen Nonsens für Teenager eine künstlerisch-kulturelle Kraft“, spitzt er seine Argumentation zu, in der das sagenumwobene „Smile“-Album einen besonderen Stellenwert einnimmt. Das vierstündige großorchestral-surrealistische Epos, das Brian Wilson zusammen mit Van Dyke Parks während einer Europatournee der anderen Beach Boys produzierte, war aus mysteriösen Gründen nie veröffentlicht worden.

Thomas gefällt gerade das: „,Good Vibrations‘ ist der perfekte Popsong und ,Smile‘ das perfekte Popalbum. Es ist deshalb perfekt, weil es verloren ist. Brian Wilson hat in einem Anfall von Wahnsinn die fertigen Bänder verbrannt. Was übrigblieb, sind nur Arbeitskopien verschiedener Songs, die zum Teil auf späteren Platten erschienen sind. Aber gerade das macht ,Smile‘ so vollkommen. Die Sinne werden stimuliert, weil die Endfassung nur in der Phantasie entstehen kann. Wir können nur ahnen, was daraus geworden wäre, und jeder muß sich selber ausmalen, wie es geklungen haben könnte.“

Musik zur Zeit?

In den achtziger Jahren nahm David Thomas insgesamt sechs Soloalben auf, wobei ihn zum Teil die alten Kollegen von Pere Ubu unterstützten. 1987 waren die Antipathien unter den ehemaligen Gruppenmitgliedern so weit abgeklungen, daß eine Reunion der Band in Angriff genommen werden konnte. Mit Eric Drew Feldman am Synthesizer komplettierte ein Musiker aus der Magic Band von Captain Beefheart die Besetzung.

Dieser Umstand animierte wiederum einige Kritiker dazu, Parallelen zwischen den beiden Gruppen und ihren Sängern zu ziehen, ein Vergleich, dem der Pere-Ubu- Chef wenig abgewinnen kann: „Ich bin ein lupenreines Mittelschichtskind und vollkommen weiß. Beefhearts Musik kam dagegen aus dem Blues, während mein Background die Rockmusik ist.“

Unter den derzeitigen MusikerInnen von Pere Ubu ist David Thomas der letzte, der von Anfang an mit von der Partie ist. Alle anderen Urmitglieder haben irgendwann das Handtuch geworfen, zermürbt von den Widrigkeiten des Musikgeschäfts, wobei einige sich sogar vollständig von der Musik zurückgezogen haben.

Vielleicht ist es der Glaube an die Relevanz der Rockmusik als zentrales Ausdrucksmittel unserer Zeit, der David Thomas zum Weitermachen treibt. „Wenn es stimmt, daß sich jede Epoche in nur einer einzigen Kunstform wirklich äußert, starb die Literatur mit dem ,Pet Sounds‘-Album der Beach Boys“ – aber das sei nur eine seiner vielen kleinen Theorien, schränkt er gleich ein, Theorien, die er gegebenenfalls nicht einmal verteidigen wolle.

Sein breites Gesicht verzieht sich zu einem Grinsen. Mit einem tiefen Schluck leert er sein Bierglas. Es ist heiß in London, klebrig heiß, man stellt sich vor: fast so heiß wie am Mississippi. Die Sonne sticht, der Schweiß trieft, und ist das nicht Brian Wilson, der vom Nachbartisch herüberprostet?

Pere Ubu: „Ray Gun Suitcase“. Cooking Vinyl 089

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