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: Der Betriebsausflug

Solch eine Einladung bekommt man nicht alle Tage! Der Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie der Universität Potsdam – zwei studentische Hilfskräfte (Ost), ein Assistent (West), die Sekretärin Frau Schäfer und ihr Lehrling (beide Ost) sowie der Professor Erhard Stölting (früher taz) – veranstaltete einen Betriebsausflug nach Wiesenburg, wo Frau Schäfer früher zur Schule gegangen war: ein im dortigen Schloß untergebrachtes Internat zur Ausbildung von Russischlehrern.

Frau Schäfer hatte alles aufs vortrefflichste organisiert. Wir begannen mit einer Besichtigung der Drahtzieherei. Das Werk beschäftigt heute nur noch 50 Leute, ist aber der größte Arbeitgeber im Ort und nach wie vor der drittgrößte Schweißdrahtproduzent Deutschlands – hinter der westfälischen Drahtindustrie und der Thyssen Schweißtechnik. Beide hatten 1990 großes Interesse an diesem Betrieb gezeigt, der nach dem Kauf einer westdeutschen Drahtspul- und Verpackungsanlage seit 1988 auch für den Export produzierte. Wie der Prokurist erzählte, wurden weitere Kunden in den Wendewirren nur noch über einen Mitarbeiter gewonnen, der im örtlichen Jagdverein aktiv war und sich mitunter mit West-Jägern traf, die Schweißdrahtbedarf hatten.

Der neue Firmenchef, Uwe Graab, berichtete, daß sein Vater in der Drahtzieherei einst Nägel produzierte und enteignet worden war. Im Dorf erfahren wir hinterher, daß sich sein Vater 1958 hochverschuldet in den Westen abgesetzt hatte. Gleich wie, der Sohn bekam die Fabrik schließlich zurück und dazu noch eine „dicke Entschädigung“ von der Treuhand, mit der er jede Menge neue Zieh- und Waschtechnologie kaufte. Damit wird dann auch die bei der Reinigung des Rohdrahts anfallende Bodenverseuchung wegfallen. Zu dieser „Altlasten-Frage“ meinte Graab jedoch: „1990/91 war die Umwelt in aller Munde, heute spricht kein Mensch mehr davon, uns läßt man jedenfalls in Ruhe.“ Damals wollte man eben die alten Kombinatsleitungen mürbe machen und heute damit die neuen Westeigentümer nicht belasten.

Nach wie vor wird jedoch der Stasi-Hammer gegen die immer noch aktiven Kader in Verwaltung und Politik geschwungen, und neuerdings versucht man auch gegen die „alten Bonzen“ in den umgewandelten LPG vorzugehen, die es trotz aller Heeremannschen Angriffe geschafft haben, durchzukommen. Die diesbezügliche Spiegel-Titelgeschichte neulich hat die Leute in Wiesenburg jedenfalls sehr verbittert. Dort hat es der ehemalige LPG-Vorsitzende ebenfalls geschafft, die Kolchose als „Terra GmbH“ am Leben zu erhalten. Immerhin, so erfahren wir im Werk, ist die Drahtzieherei kein Lehrberuf mehr, so daß den Ex- Kommunisten jetzt wenigstens der nachwachsende juvenile Rohstoff abgegraben wird. Außerdem reduzierte man gerade die ABM-Stellen von 600 auf 200 und schloß den Wiesengrund- Stützpunkt des sie betreuenden „Arbeits- und Ausbildungs-Fördervereins Belzig“, der im Schloß untergebracht war. Dort hatte zuvor die Bildungsministerin Birthler schon das rot belastete Russisch-Internat geschlossen, so daß diese feudale Anlage jetzt leersteht. Bis auf einen kleinen Informationsstand im Mittelalter- Turm, dessen ABM-Betreuung erst im Herbst ausläuft.

Der neue Besitzer der Drahtzieherei, Graab, ist, wiewohl in Wiesenburg aufgewachsen, ein Wessi und meint über seine Mitarbeiter: „Zwei Jahre gebe ich denen Zeit, sich umzustellen.“ Seine aus Wittenberg stammende Frau sagte ihm, als er nach etlichen Querelen mit der Treuhand endlich den Betrieb übernehmen konnte: „Wenn du rübergehst, um abzusahnen, lasse ich mich scheiden!“

Wegen steigender Schweißdrahtpreise und einer Quasi-Kartellierung der Branche wird das Werk jedoch trotz riesiger Investitionen und Price-Waterhouse- Negativgutachten schon im nächsten Jahr „schwarze Zahlen“ schreiben.

Nachdem der ehemalige Geschichtslehrer und jetzige Dorfchronist uns das Schloß von vorne und von hinten erklärt hatte, setzten wir uns zu einem Imbiß in das schöne kleine Gartenlokal unter den Hainbuchen des Schloßparks, wo uns der ehemalige Sportlehrer von Frau Schäfer und jetzige Vorsitzende der Jagdgenossenschaft mit Geschichten aus dem Fläming unterhielt. Der Professor zahlte hernach die Zeche. Der nächste Betriebsausflug soll nach Odessa gehen, Frau Schäfer möchte jedoch lieber nach Berkeley. Helmut Höge

wird fortgesetzt