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Von Dahlem nach Hiroshima

In der Thielallee entdeckte im Winter 1938 Otto Hahn die Kernspaltung. Die Grundlage für den Bau der Atombombe war gelegt, doch Hitler winkte ab.  ■ Von Christoph Dowe

Samstag morgen, 17. Dezember 1938: Um 11 Uhr beginnt der Physiker Fritz Straßmann mit der Auswertung des neuesten Versuchs in den Laborräumen des Friedrich- Wilhelm-Instituts für Chemie in Dahlem. Eine kleine Probe Uran war über Nacht einer Neutronenquelle im Inneren eines Paraffinblocks ausgesetzt worden. Straßmann bemerkte etwas Ungewöhnliches: Das Experiment war nicht wie erwartet verlaufen. Nach einigen Stunden, der Institutsleiter Otto Hahn ist inzwischen ebenfalls im Labor, steht fest: der Urankern ist zerplatzt. Straßmann und Hahn wissen nicht sofort, was sie da vor sich haben. Erst später wird ihnen klar: Sie haben die Kernspaltung entdeckt.

Ihre Erklärung für den Vorgang: Als das Element Uran mit langsamen Neutronen beschossen wurde, entstand Barium, und Energie wurde frei. Da Barium eine niedrigere Ordnungszahl als Uran hat, mußten die Wissenschaftler von einer Kernspaltung ausgehen. Doch sie wollten das schier Unfaßbare nicht sofort glauben. Zwei Tage später schrieb Otto Hahn an seine Kollegin Lise Meitner nach Schweden: „Vielleicht kannst Du irgendeine phantastische Erklärung vorschlagen.“ Mit der Entdeckung war der Grundstein für den Bau der Atombombe gelegt. Die deutschen Wissenschaftler katapultierten sich mit ihrer Entdeckung für kurze Zeit an die Spitze der internationalen Kernforschung. Auch in Paris standen Wissenschaftler kurz vor der gleichen Entdeckung, doch Hahn war schneller. Dafür bekam er 1944 den Nobelpreis für Chemie.

Heute sind im Otto- Hahn-Bau in der Thielalle 63 die Institute für Biochemie und Biophysik der Freien Universität untergebracht. Das Kaiser- Wilhelm-Institut für Chemie heißt heute „Max-Planck-Institut“ und ist nach Mainz abgewandert. In dem geräumigen Turmzimmer des Institutsleiters für Biochemie, Professor Volker Erdmann, hängt ein Schwarzweiß-Bild von Otto Hahn und Lise Meitner. „Wir haben hier nichts mehr mit Radioaktivität zu tun“, erklärt er. „Höchstens für Kontrastmitteltests wird bei uns noch radioaktives Material benutzt.“

In den Laborräumen aber blubbert es wie schon zu Zeiten von Wilhelm II., der das Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie am 23. Oktober 1912 höchstpersönlich eröffnete. „Jetzt erforschen wir die RNA und was damit gemacht werden kann“, so Erdmann. Der Erbträger RNA, der in jeder Zelle zu finden ist, könne für die medizinische Diagnostik und Behandlung genutzt werden. Eines Tages, so hofft Erdmann, vielleicht sogar für die Behandlung von HIV-Patienten.

Und die Geschichte des Hauses, Otto Hahn und Lise Meitner? Viel erinnert nicht mehr an das Forscherduo. „Erst vor kurzem haben wir den Hörsaal in ,Lise-Meitner- Hörsaal‘ umbenannt, denn sie ist ja ein bißchen kurz gekommen bei den Ehrungen.“ Im Juli 1938 mußte die Forscherin, die direkt neben dem Institut wohnte – dort, wo heute ein Parkplatz ist, stand früher ein nobles Gästehaus – nach Schweden auswandern. Unter dem Druck der Nationalsozialisten hatte die österreichische Jüdin schließlich ihren Posten geräumt. Bis 1938 soll sich Otto Hahn schützend vor die Wissenschaftlerin gestellt haben, doch, so sagte Institutsleiter Erdmann, „irgendwann ging es wohl nicht mehr“. Die zwei hatten dreißig Jahre lang zusammen geforscht.

Die Bedeutung von Hahns bahnbrechender Entdeckung vom Dezember 1938 wurde im Ausland schnell erkannt, als erstes von der alten Kollegin Lise Meitner im schwedischen Exil: Die Experimente weisen auf eine Kernspaltung hin, schreibt sie im Januar 1939 in der englischen Zeitschrift Nature. Im August 1939 macht Albert Einstein in einem Brief an den amerikanischen Präsidenten auf die Gefahr aufmerksam, die Deutschen könnten die Atombombe bauen. Er rät, so schnell wie möglich mit eigenen Forschungsarbeiten zu beginnen. Einen Monat später fallen die Deutschen in Polen ein, der Zweite Weltkrieg hat begonnen.

Daß sich die Forscher der Tragweite ihrer Entdeckung vom Dezember 1938 sofort bewußt waren, wird bezweifelt. Dieter Hilscher, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Hahn-Meitner-Instituts (HMI) in Wannsee, ist überzeugt: „An eine militärische Anwendung hat Otto Hahn in keiner Weise gedacht, davon kann man ausgehen.“ Hilscher hatte für das HMI, das oft mit dem Otto-Hahn-Bau verwechselt wird, eine Konferenz anläßlich des 50. Jahrestages der Hahn-Straßmann- Entdeckung organisiert. Zur Eröffnung des Instituts waren die zwei namensgebenden Wissenschaftler 1959 noch anwesend. Inzwischen erforscht das umstrittene Institut, das seit 1991 über einen modernisierten Kernforschungsreaktor verfügt, hauptsächlich die Beschaffenheit von verschiedensten Materialien. Zusätzlicher Forschungsschwerpunkt ist die Solarenergieforschung. Der Forschungsschwerpunkt Kernphysik wird dieses Jahr aufgegeben, aber der Forschungsmeiler bleibt für Materialmessungen in Betrieb.

Wie sehr die Dahlemer Wissenschaftler mit den Machtphantasien der Nazis verstrickt waren, darüber entbrannte in den letzten Jahren ein heftiger Streit. Klar ist, daß es Flügelkämpfe gab zwischen einer Gruppe der „Deutschen Physik“ und der Gruppe um Hahn, die abfällig die „weißen Juden“ genannt wurden. Kurz nach Kriegsbeginn wurde das komfortable Institut in Dahlem von den Nazis beschlagnahmt, der „Uranverein“ unter Leitung des Militärphysikers Kurt Diebner sollte die Atombombe für Hitler bauen. Doch ab 1942 verschleppten Hahn und einige seiner Kollegen wie Carl Friedrich von Weizsäcker und Werner Heisenberg die Waffenentwicklung. Die Motive dafür bleiben im dunkeln.

Am 4. Juni 1942 unterrichten die Forscher den neuen Reichsminister für Bewaffnung und Munition, Albert Speer, über den Stand der Forschung. Bewußt „ganz zurückhaltend“ und nur kurz habe Speer am 23. Juli Hitler über die Möglichkeit einer deutschen Bombe berichtet, schreibt er in seinen Memoiren: „Der Führer reagierte wunschgemäß und tat das ab.“ Damit war klar, daß ein solches Projekt keine Priorität hatte. Fliegerbomben beschädigten im Februar 1944 das Dahlemer Institut außerdem so schwer, daß dort nicht weitergearbeitet werden konnte. Die Wissenschaftler zogen nach Tailfingen in Südwürttemberg.

Ein kleines Nebengebäude hinter dem Otto-Hahn-Bau, der „Bunker“, strahlt noch immer. In den Dreißigern und Vierzigern gingen die Grundlagenforscher nicht gerade zimperlich mit ihren Abfällen um. Otto Hahn, so ein FU-Professor, „hatte ein sehr gebrochenes Verhältnis zum Strahlenschutz. Da waren die ein wenig leichtsinnig.“ Und schon vor Jahren mutmaßte ein Mitarbeiter der Strahlenschutzstelle der Freien Universität: „Vermutlich wurden die kontaminierten Stoffe und Flüssigkeiten vom Professor und seinen Mitarbeitern einfach in den Ausguß gekippt oder auf dem Gelände vergraben.“ An einer der Kellertüren des „Bunkers“, der heute als Lagerraum genutzt wird, klebt ein neuer Aufkleber: „Vorsicht Radioaktivität“.

Im zweiten Stock des Gebäudes an der Thielallee hängt eine Gedenktafel. Darauf wird auf die Entdeckung der Uranspaltung im Dezember 1938 durch Hahn und Straßmann hingewiesen. Und: „Diese Tat hat der Erforschung der Materie und des Weltalls neue Wege eröffnet und die Verwendung der Energie der Atomkerne dem Menschen in die Hand gegeben.“ Am 6. August 1945 explodiert die US-Atombombe „Little Boy“ morgens um 8.15 Uhr über der japanischen Stadt Hiroshima.

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