: Beide Beine fest in den Wolken
Der kleine französische Pyrenäenort Lourdes ist das größte Pilgerzentrum der Welt. Doch die katholische Kirche Frankreichs ist zerrissen: Ende der Aufklärung, Renaissance der Mythen ■ Von Reimar Oltmanns
Die Sonne zieht westwärts und erwärmt atmosphärisch weich das angrenzende Geschäftsgemäuer im französischen Wallfahrtsort Lourdes am Fuß der Pyrenäen. Der Blick fällt auf die Silhouette der byzantinischen Rosenkranzkirche mit surrealistischen Momenten. Eine Postkartenidylle. Religiös angehauchte Touristengefühle eines frommen Jahrmarkts, der viele Devotionalien kennt – Madonnen aus Gips und aus Plastik, Madonnen mit kleinen elektrischen Birnen. Mit jährlich mehr als zwölf Millionen Besuchern ist Lourdes zum größten Pilgerzentrum der Welt geworden. Im postindustriellen Zeitalter suchen immer mehr Menschen in Lourdes ihre spirituelle Heimat, den Sinn des Lebens also.
„Das Christentum“, urteilt der Bürgermeister von Lourdes, Philippe Douste-Blazy, „vermag die Sehnsucht der Leute nach dem Grund des Daseins nicht mehr zu stillen. Wir hingegen können das noch. Das erklärt den Massenandrang. Lourdes ist ungewollt zu einer religiösen Erfolgsstory geworden.“ Manchmal ertappt sich der Bürgermeisters dabei, wie er versonnen am Fenster seines Dienstzimmers steht – und sein Fernblick sich irgendwo in den anströmenden Menschenmassen christlicher Erneuerung verliert. „Wissen Sie“, sagt der 46jährige Ortsvorsteher, „nicht nur bei den Muslimen, auch in der katholischen Kirche ist der Fundamentalismus jäh erwacht. Die Kathedralen sind leer, die Kassen voll, der Konzern ist groß – nur der Glaube vielerorts klein. Die Neuevangelisierung der modernen Welt ist dringender denn je. Und Lourdes mit seinen gerade mal 18.000 Einwohnern ist ihre Hochburg in Frankreich – in Europa geworden.“ Eben ein Mekka für Mythen, Legenden und Überzeichnungen in einem rationalen, fortschrittserpichten Jahrhundert.
Gemächlichen Schrittes schiebt sich ein Pilgerpulk vor die Dreifach-Basilika. Die Kirche, nach Pius X. benannt, wurde 1958 zur Jahrhundertfeier eingeweiht. Hier hatte Bernadette Soubirous, die Tochter eines verarmten Müllers, mehrere Marienerscheinungen der „unbefleckten Empfängnis“. Im stattlichen Gotteshaus, fast 200 Meter lang und 80 Meter breit, können maximal 25.000 Gläubige ihr gemeinsames Gebet einer erdrückenden Akustik ausliefern. Vorbei sind jedenfalls die Zeiten, in denen ausschließlich Kranke in Lourdes inständig auf wahre Wunder hofften. Bis heute sind insgesamt 2,5 Millionen Körperbehinderte gen Lourdes befördert worden. Immerhin haben Ärzte 3.500 Heilungen im Mirakel-Milieu festgestellt. Als Wunder sind 65 Genesungen von der katholischen Kirche zu Rom offiziell anerkannt.
Passé sind auch die Jahre, in denen Lourdes dem Mythos des Madonnenkultes neuen Atem, frische Legenden einzuhauchen hatte. Esoterik heißt nunmehr die faszinierende Zauberformel in diesen christlichen Krisenzeiten. Jene „Geheimlehre“ aus uralten Geistes- und Seelenschulen speist die Gemüter mit einer subkulturellen Daseinsfürsorge. Ob Schweigeseminare oder „Wege der biblischen Spiritualität“, ganz gewiß auch „heilende Stoßgebetsgebärden“ – breitgefächert kreist die Amtskirche Frankreichs ihre Gläubigen ein. Aus Konkurrenz zu Buddhismus und Islam. Momentaufnahmen aus Lourdes sind Nachrichten aus einer Gegenwelt, die dem Alltagsatheismus mit ihrem moralischen Rigorismus zu trotzen trachtet. Längst ist Lourdes auf Geheiß des Papstes Johannes Paul II. zu einem makellosen Refugium der Römischen Kurie geworden. Schließlich ist Frankreich die älteste Tochter Roms.
Da fesselt der französische Priester George Morand die Gläubigen schon vor dem Kirchenportal – mit seinen Bekenntnissen als Teufelsaustreiber. Über zehn Jahre notierte er seine persönlichen Erfahrungen als Exorzist der Republik. In seinem Buch „Verlasse diesen Menschen, Satan“ („Sors de cet homme, Satan“) kommt der 63jährige Theologe Morand zu der gottesfürchtigen Einsicht, daß schon „psychische Krisen, gar Schreikrämpfe eindeutige Alarmsignale“ seien. „Buße, Buße, nur beten heilt“, schallt es dem Gottesmann folgsam entgegen. Lourdes im Frühsommer 95.
In Lourdes feiert Deutschlands Militärbischof Johannes Dyba mit 25.000 Uniformierten die internationale Soldatenwallfahrt. Die Bundeswehr ist mit 3.000 Mann samt sechs Sonderzügen dabei. Selbst 40 kranke Armeemänner hat der Bischof einfliegen lassen. Auf dem Kreuzweg tragen Soldaten sie im Gleichschritt auf ihren Schultern. Zeitlupentempo. Und mittendrin postiert sich Johannes Dyba. „Wer wisse, daß Gott ihn gewollt habe“, doziert der Militärbischof im modernen Hochdeutsch da, „der könne nie mehr so ganz ,down and out‘ sein.“ Die Bundeswehr zu Lourdes nickt einvernehmlich. Verständlich, daß unter kirchlicher Obhut in den Cafés oder auf den Plätzen des „Quartier Peyramale“ viel gesungen wird; mal ein „Prosit der Gemütlichkeit“, mal mit Lili Marleen fragend, wo die Blumen sind. Sonderurlaub in Südfrankreich, Trinklaune, Feiertagsstimmung.
Überall wimmelt es im kleinen Pyrenäenort von Uniformen. Nicht nur feldgrau und tarngrün – das Antlitz von Lourdes verlangt den schneidigsten Landserrock. Im Pilgerhandbuch steht geschrieben, daß eine „Verbrüderung im Rahmen einer Wallfahrt“ passieren sollte. Ganz im Sinne des Lagerpfarrers Schadt, der seinen Soldaten im Feldgottesdienst predigt: „Jungs, wir spielen um und für das Leben. Unsere Jungfrau Maria ist die Trainerin und Gott der Präsident.“ Dann wirft der Pfarrer einen Fußball auf die Betenden, „weil wir gewinnen werden. Amen.“ Wallfahrt in Lourdes im Frühsommer 94.
Sicherlich erhellt jene Befindlichkeit im Wallfahrtsort zu Lourdes mit seinem romantisch unterlegten Glaubenstourismus die tiefen Identitäts- und Strukturkrisen der katholischen Kirche kaum. Nur in seinem Gemäuer konservieren Frankreichs Kardinäle trotzig jene Lebensferne, die zunehmend bedrohlicher Christen aus der Amtskirche treibt. Immerhin gelten offiziell 80 Prozent der 57 Millionen Franzosen als katholisch. Aber lediglich ein Fünftel bekennt sich noch uneingeschränkt zu den Dogmen aus Rom.
Das Überleben der französischen Kriche garantieren die nahezu zehntausend katholischen Privatschulen samt auflagenstarken Verlagshäusern mit 500 Zeitungstiteln und einem Umsatz von nahezu zwei Milliarden Francs im Jahr. Besuchten im Jahre 1946 noch 33 Prozent den sonntäglichen Gottesdienst, so reduzierte sich der Kirchgang im Jahre 1991 auf knapp acht Prozent. Fühlten sich vor fünfzig Jahren jährlich noch etwa 1.400 Männer zum Priester berufen, so sind es heute gerade mal hundert.
Endzeitstimmung in einer Republik, in der die tausend alten Kathedralen vom Atlantik bis zum Rhein wie kostspielige Restposten einer obdachlos gewordenen Kultur abgebucht werden. Schon im Jahre 1991 unterzeichneten 25.000 französische Katholiken ein Manifest, in dem sie verkündeten: „Wir erkennen uns in den Drohungen des Episkopats und des Vatikans nicht wieder.“
Lourdes indes war in seiner Kirchengeschichte stets ein Seismograph katholischer Umwälzungen, ein bizarrer Schauplatz päpstlichen Augenmerks. Unversehens ist Lourdes heute zu einer Trutzburg des klerikalen Fundamentalismus geworden. Ganz im Sinne des Pariser Erzbischofs Jean-Marie Lustiger. Für Frankreichs Christen läutete der 68jährige Papstvertraute die Kehrtwende katholischer Zeitläufte ein. „Die Aufklärung hat den Totalitarismus geboren, die Vergöttlichung der menschlichen Vernunft. Eine Kirche, die selbst vom Geist der Aufklärung zersetzt wird, kann eine Welt nicht retten. Wenn ein Bruch zwischen der Elite und dem Volk besteht, dann droht die Spaltung.“
Der Heilige Stuhl zu Rom, die Rekatholisierung Europas – Lourdes und seine Folgen. Vor dem Portal der Dreifach-Basilika warten zehn schwangere Frauen aus Toulouse auf Einlaß. „Abgetriebene Föten taufen und christlich beerdigen, Monseigneur“, steht auf ihrem Transparent geschrieben. Allesamt sind die Damen Mitglieder der „Union pour la vie“ – einer traditionellen Vereinigung für das Leben, die einzig dem Vatikan „die rettende Wahrheit“ zugesteht. Hinter ihnen haben sich etwa 50 Herren aufgebaut – Männer der Anti-Abtreibungskommandos. Seit Monaten haben sie die Schlagzeilen der Republik und vor allem die offizielle Moral der Kardinäle auf ihrer Seite. Wendezeiten in Frankreich, in dem Schwangerschaftsunterbrechungen seit Mitte der siebziger Jahre einvernehmlich geregelt sind.
Irgendwo in der Republik – spontan und unberechenbar – stürmen militante Fundamentalisten OP-Stationen in Krankenhäusern. In Grenoble kettete sich Pater Gérard Calvet im Oktober letzten Jahres an der Universitätsklinik La Tronche mit acht Mitstreitern an Krankenbetten. Als sich im Januar 1995 der Benediktiner mit seinem Gefolge strafrechtlich wegen Hausfriedensbruch, Nötigung und so weiter vor Gericht verantworten mußte, war klar: Die verhängte Geldstrafe von 5.000 Francs zahlt der Erzbischof von Paris; die Gefängnisstrafe wurde ohnehin auf Bewährung ausgesetzt. Verständlich, daß jene Herrengesellschaft der Anti-Abtreibungskommandos vor dem Portal der Dreifach-Basilika zu Lourdes in Broschüren ihre „Erfolgsbilanzen“ siegesgewiß verteilt: mal eine Massendemonstration vor der Pariser Oper, mal Ärzte mit Krankenschwestern eingeschüchtert – und immer wieder ein unberechenbares Eindringen in die Krankenhäusern der Republik. France 95.
Noch nie war die katholische Kirche in Frankreich so zerrissen, derart gelähmt, von Spaltung bedroht. Eine christliche Gemeinschaft verweigert sich der Wirklichkeit. Nein zur Ehescheidung, nein zur Empfängnisverhütung, nein zur Abtreibung, nein zur Priesterehe, nein zur Frauenordination. Aber ja zum Rausschmiß jener, die im Katholizismus dieser Tage neue Glaubenskräfte und damit Glaubwürdigkeit freizusetzen hoffen. Der vom Papst im Januar 1995 gefeuerte Bischof von Evreux, Jacques Gaillot, ist nach Paris in die Rue du Dragon 7 gezogen – zu den Ausgeschlossenen des Landes, den Obdachlosen, Arbeitslosen, Sozialhilfeempfängern.
Längst ist der Name Gaillot unter Christen zu einem Synonym der täglich erlebten Kirchenspaltung geworden. Vor einem halben Jahr pilgerten 50.000 Menschen – darunter 300 Autobusse und zahlreiche Sonderzüge — zu einer Sternfahrt nach Evreux. Über 100.000 Menschen protestierten mit ihrer Unterschrift gegen Gaillots Amtsenthebung, weil er dort präsent war, „wo wir es als Kirche leider häufig nicht sind“. Bei Obdachlosen, Aids-Kranken, Homosexuellen, Asylsuchenden. „Das Evangelium vorzuleben“ war Gaillot wichtiger als Messen, Prozessionen und mystische Wallfahrten.
Dabei konnte Gaillot nicht ahnen, daß sich Frankreichs Kardinäle schon ein Jahr nach seiner Ernennung 1983 darauf verständigt hatten, den Papst zu seiner Abberufung als Bischof von Evreux zu bewegen. Damals war Gaillot der einzige französische Oberhirte, der gegen die Entschließung der Bischofskonferenz stimmte: „Den Frieden mit atomarer Abschreckung gewinnen.“ Ort der Handlung: die Dreifach-Basilika zu Lourdes.
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