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Die Staatsmacht erscheint erst zum Schluß

Für wen filmt man Geschichte? Beobachtungen beim 19. Moskauer Filmfestival  ■ Von Ulrich Heyden /Barbara Schweizerhof

„Wir wissen, daß du heimlich in die Kirche gehst und betest. Komm näher an den Apparat heran.“ Auf der Kinoleinwand sieht man einen verschüchterten Studenten angstvoll auf einen Radioempfänger starren, aus dem eine Stimme ernst und drohend zu ihm spricht. Hinter ihm stehen seine Studienkollegen und können sich das Lachen kaum verkneifen. Die Kamera zeigt dem Zuschauer, woher die vermeintliche Geheimdienststimme wirklich kommt: Im Kleiderschrank sitzt ein weiterer Student und imitiert mit Hilfe eines Mikrophons den allwissenden Mitarbeiter des KGB. Doch als der Kirchgänger mit der ihm eigenen Inbrünstigkeit sich standhaft weigert, trotz mehrfacher Aufforderung durch die Stimme im Radio, andere Studenten zu verraten, ergreift seine Zimmerkumpel Mitgefühl. Sie geben zu erkennen, daß das ganze nur Spaß ist. Man fällt sich in die Arme und lacht.

Dies ist eine Szene aus dem Film „Das wunderbare Spiel“ des russischen Regisseurs Pjotr Todorowskij, dem russischen Wettbewerbsbeitrag der 19. Moskauer Filmfestspiele. Die Geschichte spielt in einem Studentenwohnheim im Jahre 1951, also zu Zeiten noch ungebrochener stalinistischer Herrschaft. Über fast die gesamte Länge des Films hinweg entfaltet der Regisseur ein den üblichen finsteren Vorstellungen über diese Zeit vollkommen entgegengesetztes Bild: Das Wohnheim ist ein Ort rauher und gleichzeitig trauter Gemeinschaftlichkeit, in dem die Bewohner in fast leichtsinniger Ungezwungenheit ihr bescheidenes Leben führen. Die Staatsmacht erscheint erst ganz am Schluß. Dann allerdings sehr drastisch. Die Studenten, die das ganze Wohnheim mit ihren Radiospäßen zum Lachen gebracht haben, werden in den Verliesen des „wahren“ KGB hinterrücks erschossen.

Über die historische Richtigkeit des Films wurde während des Filmfestivals gestritten. Die einen sagten, das Leben sei nicht so schön gewesen, die anderen meinten, die Staatsmacht sei nicht so hart gewesen. Daß es bei diesem, wie auch bei vielen anderen der neuesten russischen Filme gar nicht auf historische Richtigkeit ankommt, legte die Filmkritikerin Jelena Stischowa auf einem im Rahmen des Festivals durchgeführten Symposium dar: „Viele berühmte Filme der letzten Zeit spielen in der jüngsten sowjetischen Vergangenheit und sind trotzdem auf keinen Fall ,historisch‘ zu nennen. Die Geschichte dient ihnen als Anlaß zur Selbstreflexion und nicht zur Erkenntnis. Nicht die historische Realität wird dargestellt, sondern der Mythos, den diese Situation umgibt.“ Stischowa sieht darin ein Bestreben, die Erinnerung an eine das eigene Selbstwertgefühl herabsetzende Vergangenheit abzulehnen und sich eine andere Identität aufzubauen. Tatsache ist, daß die vorwiegend jungen Regisseure in ihren Filmen keine Geschichtsaufarbeitung betreiben, die Geschichte aber auch nicht verherrlichen. Man sucht einen emotionalen Zugang zur Vergangenheit, der jenseits von ideologischer Verherrlichung und allgemeiner Verdammung liegt.

Ein Festgelage während der Pest

Todorowskijs „Das wunderbare Spiel“ war zwar der einzige russische Film im Wettbewerb, doch boten die 19. Moskauer Filmfestspiele in ihrem reichhaltigen Beiprogramm die seltene Chance, eine ganze Reihe neuerer russischer Filme zu sehen, die ansonsten selbst im eigenen Land kaum mehr in die Kinos kommen. Boris Aronowitsch, Prorektor der Moskauer Filmhochschule: „Es gibt in Rußland praktisch keinen Verleih für russische Filme. Denn es gibt fast keine Kinos mehr.“ So sind zum Beispiel von 84 Moskauer Kinotheatern 34 für unbestimmte Zeit geschlossen. „Viele Filme kommen nicht in den Verleih, weil die Kinotheater ihre Räume an Unternehmen vermieten. Dort werden dann zum Beispiel Autos verkauft.“ Auf die Frage, ob das Kinofestival etwas an dieser Situation verändern kann, meint Aronowitsch: „Wohl kaum. Es ist lediglich ein Festgelage während der Pest, würde ich sagen. Wenn man dieses Geld für die Unterstützung und den Erhalt der Kinotheater verwenden würde, hätte man mehr getan.“

Michail Schabskij, Soziologe am Forschungsinstitut für Filmkunst, illustriert die Lage mit Zahlen: In den Kinotheatern Rußlands werden heutzutage 90 Prozent ausländische Filme gezeigt, darunter ein übergroßer Anteil an Erotik und billigen Unterhaltungsfilmen. Der vergleichende Blick zum Filmangebot im Fernsehen nimmt dieser Entwicklung etwas von ihrer Schärfe. Dort liegt der Anteil der russischen Filme immerhin bei 34 Prozent. Auf die Frage, ob das Publikum keine russischen Filme mehr sehen will, meint Schabskij: „Die Zuschauer wollen russische Filme eines bestimmten Typs und Qualität. Daß sie solche Filme nicht zu sehen bekommen, hat zwei Gründe: Zum einen fehlt das Geld, diese Filme zu produzieren, zum anderen werden die russischen Filme, die produziert wurden, oft aufgrund von Zweifeln an einem wirklichen Kassenerfolg nur sehr zurückhaltend angepriesen. Aber der Verleih mit den ausländischen Filmen läuft im Grunde auch nicht besser. In Moskau sind die Kinotheater praktisch leer. Vor einiger Zeit glaubten wir noch, daß diese Apathie der Kinobesucher und das Kinosterben eine typisch westliche Erscheinung ist. Jetzt hat Rußland in dieser Beziehung den Westen überholt.“

Der Einfluß der „neuen Russen“

Die Moskauer Festivalmacher wollten eine Veranstaltung, die rundherum Weltmaßstäben entspricht. Einige Moskauer Blätter sprachen von Geldverschwendung. Während die einheimische Filmproduktion praktisch am Boden liege, lasse man sich das internationale Festival 7 Millionen Dollar kosten. Besonders kritisiert wurde in diesem Zusammenhang der von dem diesjährigen Oskar- Preisträger Nikita Michalkow aufwendig organisierte zweitägige Ausflug der Festivalgäste nach Nischni Nowgorod. Dieser betont großzügige Umgang mit Geld entspricht einer neuen Tendenz. Im Filmgeschäft und im russischen Film selbst treten zunehmend die „neuen Russen“ auf, eine erst vor kurzem zu Geld gekommene neue soziale Schicht.

Über den zunehmenden Einfluß dieser Schicht im kulturellen Leben Rußlands sprach auf dem erwähnten Symposium der Ende der siebziger Jahre in die USA emigrierte Literaturwissenschaftler Pjotr Wajl. Ein Großteil der neueren russischen Filme sind, so Wajl, von einem „negativen Patriotismus“ gekennzeichnet. Ganz anders noch als zu Perestroikazeiten erscheine der Westen in vielen Filmen im denkbar schlechtesten Licht: als Quelle der Versuchung, der Familien zerstört, Zwiespalt zwischen den Generationen und den Ehegatten sät, gute Freunde auseinanderbringt, kurz: als Negativfolie, vor der Rußland wieder als die Heimat wahrer Geistigkeit und Menschlichkeit erscheint. Die Rolle des ideologischen Feindes, den es in der Geschichte Rußlands und der Sowjetunion immer gegeben habe, spiele heute ein weiteres Mal der Westen.

Der Grund dafür liege in der Enttäuschung der Russen darüber, daß die Öffnung zum Westen nicht die erhoffte schnelle Verbesserung des Lebensstandards gebracht hat. Die Quelle dieser „neuen Ideologie“ erkennt er aber im Verhalten und Lebensstil jener Leute, die gerade von den neuen Verhältnissen profitieren, eben den „neuen Russen“. Entscheidend sei, daß sich das Verhältnis der Intelligenz und damit auch der Künstler zu dieser Schicht grundlegend geändert hat; wurden sie früher wenig geachtet und verlacht, so lassen sie sich heute vonden „neuen Russen“ aushalten, da sie potentielle Sponsoren für Kino und Theater darstellen.

Von der Versuchung, die der Westen darstellt und dem Einbruch des Kapitalismus in Form der „neuen Russen“ und reich gewordenen Emigranten, handelt auch ein anderer russischer Film, der auf dem Festival gezeigt wurde. „Alles wird gut“ von Dmitri Astrachan. Auch dieser Film spielt in einem Wohnheim, genauer: einem Arbeiterwohnheim der Gegenwart. Dort wohnen Leute, die mit den heutigen Verhältnissen nicht mithalten können: Trinker, Arbeitslose, ein Alter im Rollstuhl und junge Liebende, die heiraten wollen, aber keine Wohnung haben. Der Sozialismus, der ihnen bisher einen minimalen sozialen Schutz gewährte, existiert nicht mehr, und es erscheint fraglich, ob die Segen der Marktwirtschaft diese Menschen je erreichen wird. Dafür dringt in dieses Leben plötzlich ein in Amerika reich gewordener russischer Emigrant ein und beginnt wie mit Zauberhand alle offenen Wünsche zu erfüllen. Im Tumult der aufbrechenden Sehnsüchte zeigt sich, daß das Wünschen im Kapitalismus erst gelernt werden muß. Der junge Bräutigam „versagt“ aufgrund seiner Bescheidenheit: Wer es in den neuen Verhältnissen zu etwas bringen will, muß mehr wollen als Arbeit und eine Wohnung. Seine Braut verläßt ihn und geht mit dem Sohn des Emigranten nach Amerika. In der letzten Szene sieht man ihn als einfachen Arbeiter in die Fabrik gehen – ein Bild fast wie aus vorrevolutionären Zeiten.

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