: Christie muß am Ende leiden
Der sprintende Großvater Linford Christie wurde von Donovan Bailey, dem neuen 100-Meter-Weltmeister, schmerzensreich verabschiedet ■ Aus Göteborg Peter Unfried
Gut möglich, daß dies schon jenes WM-Bild ist, das in Erinnerung bleiben wird: Davonhüpfend mit den inzwischen bekannten Hopplern und den großen, glücklichen Augen der eine, direkt hinter der Ziellinie auf dem Bauch liegend, den Kopf schüttelnd der andere. Na bitte, Primo Nebiolos Leichtathletik-Zirkus braucht bekanntlich dringend neue Charaktere, insbesondere solche mit fröhlichen Gesichtern. Und lebt von der Illusion, es beginne gerade in diesem Moment wieder etwas völlig Neues.
So gesehen war es hoch an der Zeit, neben anderen auch den guten, alten Linford Christie auszusortieren. Der nämlich ist offensichtlich von der Last der Jahre (35), den medialen Widrigkeiten der britischen Insel (The Sun), dem dortigen Leichtathletik-Verbande und der ambivalenten Erfahrung von Biologie (Mutter gestorben, Enkel geboren) etwas schwermütig geworden. In Göteborg hat er zwar noch stur wie einst geradeaus geguckt, doch waren ungewohnte kleine technische Fehler sichtbar geworden und hatten – auch wenn sich richtig sicher bis zur Hälfte des Finallaufs wenige waren – Konkurrenten wie Mike Marsh längst bemerkt, daß „Linford nicht mehr an sich selbst glaubte“. Da war eben dieser gezerrte Muskel im rechten Oberschenkel. Zugezogen mutmaßlich in Monaco beim Üben, in München noch eilig behandelt, doch nach 80 Metern des Halbfinales nicht mehr zu leugnen. „Wenn man schon untergeht, soll man es kämpfend tun“, so schön sprach Christie – und rannte hinterher.
Halten wir es wie immer: Wenden wir uns vom Verlierer ab und dem Sieger zu, einem Mann, der, wie sein Manager Ray Flynn verspricht, eine wahrlich „ungewöhnliche Geschichte“ zu bieten hat. Also: Donovan Bailey (27) ist auch nicht mehr der Jüngste, für einen Sprinter aber gar nicht alt und als Sprinter gerade etwas über zwei. Der Junge, der vor vierzehn Jahren als Wirtschaftsflüchtling von Manchester, Jamaika nach Kanada kam, war Basketballer und betrieb das Rennen als „hobby-type-of- thing“ (Bailey). Das reichte ihm, bis er 1993 zur WM nach Stuttgart mitkam, doch nicht einmal in der Staffel ran durfte. Dafür traf er den Sprint-Coach Dan Pfaff. Der sprach den schicksalsschweren Satz: „Willst du der schnellste Mann der Welt werden? Entscheide dich.“ Worauf der lockere Bailey lässig zurückgab: „Sure.“
Pfaff nahm ihn mit zur Louisiana State, wo Bailey einen Wirtschaftsabschluß machte – und der Trainer ihn schneller. Vergangenes Jahr katapultierte Bailey sich von einem 10,36- zu einem 10,03- Sprinter, heuer steigerte er die Weltjahresbestleistung auf 9,91 Sekunden. „Er hatte“, sagt Manager Flynn, „klar die schnellsten Zeiten, doch erst dieser Sieg wird ihm die Glaubwürdigkeit geben, die ihm bisher fehlte.“ Nämlich am Tag, der zählt, dem Rest davonlaufen zu können.
„Ich bin nicht als guter Starter bekannt“, sagte Bailey, der angesichts dieser Tatsache blendend aus dem Block kam. „In der Mitte habe ich versucht, ins Rennen zurückzukommen.“ Da zog er gleich mit dem Rest, bis er bei 70 Metern plötzlich „verrückt“ (Bailey) wurde: „Ich schrie!“ Der Kanadier hatte „übersteuert“ und brauchte „ein paar Schritte, um ins Rennen zurückzukommen“. So war auch das wichtigste und zweitschnellste Rennen (9,97) Baileys wie gewohnt ein „technisch schlechtes“ jenes Mannes, der „eigentlich noch gar nichts über den 100m-Lauf weiß“. Und doch eine ganze Menge: Etwa, wie es sich anfühlt, Weltmeister zu sein. „Ich versuche immer noch“, hat Bailey gesagt, „es zu schlucken.“
Sonst im übrigen nichts. Fünfzehnmal hat man den Weltmeister seit September getestet, hat sein Manager mitgezählt, wohl, sagt der, „weil der kanadische Verband da besonderen Wert drauf legt“. Das hat der bekanntermaßen nicht immer. Die Frage nach dem schurkischen Mister Ben Johnson wird Bailey permanent gestellt, „wir aber“, sagt er und guckt rüber zum Kollegen und WM-Zweiten Bruny Surin, „stellen die Frage nicht mehr“. Und hören wollen sie sie auch nicht: „Kein Wort mehr über Ben Johnson!“ Sehr wohl! Bis zu diesem Jahr war Surin stets etwas langsamer gewesen als Christie und die Amerikaner. Jene kann Kanadas Coach Mike Murray, von Geburt jamaikanischer Hürdenläufer, nun zum Ende der WM vollends ausknocken. Die USA haben bisher seit 1983 dreimal den Sprintweltmeister gestellt (jeweils Carl Lewis), zweimal alle drei Medaillen geholt und in Stuttgart hinter Christie noch Rang zwei bis vier belegt. Und was haben sie nun? Einen fünften Platz durch Mike Marsh. In der Staffel: vier Weltmeisterschaften, vier US-amerikanische Siege. Ein Gesetz der Serie sozusagen. Gesetz? Dennis Mitchell verletzt, Carl Lewis kann auch nicht, und einen Einsatz von Michael Johnson, der sich, ein viertes Gold witternd, ins Spiel brachte, will Coach Ron Bazil nicht riskieren. „Wann ist denn eigentlich die Staffel“, hat der „hingebungsvolle, ambitionierte, extrovertierte“ (Manager Flynn) Donovan Bailey im Presseraum in die Runde gefragt. Sonntag? „Dann“, hat er auf den Platz in der Mitte gezeigt, wo die Sieger sitzen dürfen, „sehen wir uns am Sonntag wieder hier.“
Das wäre eine WM-Abschlußmetapher, die tatsächlich im Gedächtnis bleiben würde: Während ein Mann strahlend davonhüpft, liegt eine, nun ja, Leichtathletik- Dynastie am Boden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen