: In Weißrußland herrscht Ruhe
Seit zwei Monaten gibt es in Weißrußland kein Parlament mehr. Präsident Lukaschenko stört dies wenig – nun kann er allein regieren ■ Von Ricard Jordana
„Drüben in der Ukraine gehen sie jeden Tag auf die Straße, um gegen irgendwas zu demonstrieren. Bei uns aber herrschen Ruhe und Ordnung. Wir dürfen stolz darauf sein, wir sind das friedlichste Land der ehemaligen UdSSR“, so sprach Weißrußlands Präsident Alexander Lukaschenko unlängst zur versammelten Festgemeinde. Die ehemalige Sowjetrepublik beging den Jahrestag ihrer Unabhängigkeit, und damit dabei keine kritischen Stimmen störten, ließ der Präsident eine geplante Demonstration der Nationalisten der Weißrussischen Volksfront (BNF) verbieten. Da diese sich dies aber nicht gefallen ließen, mußte die Polizei eingreifen und die Kundgebung auflösen.
Fraglich ist jedoch, warum Lukaschenko überhaupt den Tag der Unabhängigkeit feierte. Nicht ohne Grund schreiben die liberalen Zeitungen in Moskau über das „stalinistische Naturschutzgebiet Weißrußland“. Auf dem Dach der Präsidialkanzlei weht seit der Parlamentswahl am 28. Mai dieses Jahres wieder die rote Fahne der Weißrussischen Sowjetischen Republik, allerdings nicht mehr mit Hammer und Sichel.
Demonstriert wurde am weißrussischen Feiertag nur in Minsk. In den übrigen Landesteilen herrschte weit und breit Ruhe, ganz nach den Vorstellungen Lukaschenkos. „Die meisten Menschen haben jegliches Interesse an der Politik verloren und verbringen den freien Tag lieber auf der Datscha. Nur in der Hauptstadt regt sich Widerstand gegen die Machtpolitik Lukaschenkos“, sagt Anatoli Fasjanenko, Dozent für Politik an der Uni Gomel.
Der heute vierzigjährige Lukaschenko fing seine Karriere als Kolchosvorsitzender in den 70er Jahren an, zu einer Zeit, als Weißrußland als der Musterknabe der UdSSR galt und der Parteiapparat des Landes aufgrund der damals strategisch wichtigen Grenznähe in Moskau großen Einfluß hatte. Wie eine Kolchose regiert Lukaschenko auch sein Land. Den Kombinatsdirektoren bringt er das Abc des Monetarismus bei, damit sie endlich begreifen, daß Energielieferungen nunmehr bezahlt werden müssen – seine markigen Sprüche in einem Kauderwelsch aus Russisch und Weißrussisch sind landesweit berüchtigt.
Lukaschenko duldet keine Widersacher: „Der Begriff ,Kompromißbereitschaft‘ steht nicht in seinem Wörterbuch“, behauptet Fasjanenko. Dabei verfügt Weißrußland seit Mai über kein funktionsfähiges Parlament mehr: Die Teilnahme an den Wahlen war so niedrig, daß nur in 119 der insgesamt 260 Wahlbezirke Abgeordnete entsandt werden konnten. Eine Nachwahl in den restlichen 141 Wahlkreisen wurde erst für Ende November angesetzt.
Die frühere Volksdeputiertenkammer führte deswegen zunächst die Geschäfte weiter, bis ihr Lukaschenko Anfang Juli den Geldhahn abdrehte. Seitdem waltet er unangefochten im Land. Mit der unabhängigen Presse geht er nicht anders um: Unter dem Vorwand der „Beleidigung von Amtsträgern“ ließ er eine Illustrierte einstampfen. In Fotocollagen waren der Präsident und sein Stab lächerlich gemacht worden. Schon im letzten Dezember protestierten mehrere unabhängige Zeitungen mit Titelseiten, auf denen einige Stellen weiß blieben. Hier, so wollten sie zeigen, hatte der Zensor durchgegriffen. „Jetzt üben sich die meisten unabhängigen Journalisten in ,realistischer Selbstzensur‘“, stellt die Minsker Sozialforscherin Olga Abramowa fest.
Probleme bereitet Lukaschenko somit weniger die Opposition als die wirtschaftliche Misere des Landes. Die galoppierende Inflation bremste er zwar mit Finanzspritzen vom IWF und der Europäischen Bank für Entwicklung und Zusammenarbeit, doch damit machte er zugleich den weißrussischen Rubel zu teuer für den Exporthandel. Jetzt stapelt sich vor allem in den exportabhängigen Traktorenwerken die unverkäufliche Ware, die russischen Abnehmer winken bei zu ungünstigen Wechselkursen ab, und der Pleitegeier zieht immer tiefere Kreise. Die 30.000 Arbeiter eines Minsker Maschinenbauwerkes, die ihre Lohntüte seit drei Monaten nicht mehr gesehen haben, baten den Präsidenten, sich persönlich für die Lohnauszahlung einzusetzen. Immer noch sind 90 Prozent der weißrussischen Betriebe in staatlicher Hand. Für den Herbst haben die Gewerkschaften erste Arbeitskämpfe angekündigt.
Bei den Nationalisten gibt es Stimmen, die eine „Rückgabe“ von Gebieten unter „russicher und litauischer Verwaltung“ fordern. Dies betrifft vor allem Vilnius, wo sich seit dem 14. Jahrhundert unzählige Weißrussen ansiedelten. Im wesentlichen aber beschränkt sich die Volksfront auf die Verbreitung der weißrussischen Sprache, hiermit verbunden ist die diffuse Ablehnung von Rußland und der russischen Kultur. Sie gilt als „uneuropäisch“.
Das schweigende Gros der Bevölkerung ist von diesem Kulturkampf jedoch sichtlich unberührt. Sie pflichten nach wie vor Lukaschenko bei. Der „volksnahe Tribun“, als der er sich gerne sieht, wird in den kommenden Monaten die Züge seiner machtpolitischen Schachpartien mit abwechselnden Bündnispartnern sehr genau abwägen müssen. Mit einem Auge wird er auf Moskau schielen und den Ausgang der russischen Parlamentswahl im Dezember abwarten. Mit dem anderen wird er die Reihen seiner Getreuen nicht außer acht lassen. Manches Kabinettsmitglied ist unzufrieden mit Lukaschenkos jetziger Rußlandpolitik und wünscht sich eine Annäherung Weißrußlands an die EU. Die letzen vier Jahre haben das Land so weit von der russischen Fahrrinne abdriften lassen, daß eine Wiedervereinigung mit dem großen Bruder im Osten sehr beschwerlich sein dürfte.
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