: Nichts zu lachen in Gaza
Das Einkommen der Palästinenser liegt heute um 40 Prozent niedriger als vor der Unterzeichnung des Abkommens mit Israel ■ Aus Gaza Karim El-Gawhary
Ahmad Ali Na'il hat sich mit zehn anderen seiner Kollegen vor der Mittagshitze im Schatten seines Lkws verkrochen. Sie sollen Orangen aus Gaza nach Jordanien transportieren. Seit vier Tagen warten sie auf die erlösende Durchsuchung ihrer Fahrzeuge in Erez, dem israelischen Kontrollpunkt an der grünen Linie zwischen dem palästinensischen Gazastreifen und dem Inneren Israels.
In der Fahrerkabine findet sich lediglich ein Sitzeisengestell ohne Polster, ein Lenkrad, die Pedalen und die Gangschaltung; alles andere ist herausgeschraubt. An der Stelle des Armaturenbretts befindet sich nur ein großes Loch. Aus Sicherheitsgründen fordern die israelischen Grenzkontrollen die „gläserne Fahrerkabine“.
Auch die Fahrer selbst müssen eine saubere Weste vorzeigen, keine Eintragung im Polizeiregister, keine Verwandten in einem israelischen Gefängnis. Sie müssen verheiratet, älter als 30 Jahre sein und Kinder haben. „Wir sind sauberer als ein Baby nach dem Bad“, wie es Ahmad Bawan, einer der Fahrer, beschreibt. Einmal durch den Checkpoint durch, müssen sie auf der anderen Seite warten, bis die israelischen Behörden einen Konvoi zusammenstellen, in dem sie sich dann schwer bewacht zur jordanischen Grenze begeben.
Eine Ladung schafft er pro Woche, erzählt Na'il – für eine Strecke, die ansonsten jeder bequem im Auto in vier bis fünf Stunden zurücklegen kann. Über die großen Konferenzworte von Friedensprozeß, wirtschaftlicher Entwicklung oder gar einem gemeinsamen nahöstlichen Markt können die Lkw- Kollegen nur lachen.
Vielen Palästinensern im Gazastreifen ist das Lachen unterdessen vergangen. Für die Menschen im von Israel ökonomisch völlig abhängigen Gazastreifen gibt es momentan nur zwei Fragen: Können wir in Israel Arbeit finden, und können wir unsere Tomaten oder Melonen dorthin verkaufen. Doch der Gazastreifen ist vom Kernland Israel abgeriegelt, aus „Sicherheitsgründen“, so die israelische Argumentation.
Die Palästinenser weisen zwar immer wieder darauf hin, daß keiner der blutigen Hamas- und Dschihad-Anschläge in Israel von einem regulären palästinensischen Arbeiter mit israelischer Arbeitsgenehmigung durchgeführt wurde – doch ohne Erfolg. Seit Arafat vor gut einem Jahr mit seiner palästinensischen Verwaltung in Gaza eingezogen ist, war das Gebiet die Hälfte der Zeit abgeriegelt.
Gazas Arbeiter, traditionell abhängig von einer Anstellung in Israel, sitzen folglich auf der Straße. Die Arbeitslosenrate im Gazastreifen, so der palästinensische Ökonom Hisham Awatani, der an der Nablus-Universität lehrt, liegt dort bei 45 Prozent. Waren es vor dem Golfkrieg 80.000 Arbeiter, die regelmäßig die grüne Linie überquerten, um in Israel zu arbeiten, erlauben die israelischen Behörden nach eigenen Angaben nur noch 18.000 Arbeitern die Reise in den benachbarten Arbeitsmarkt.
Gazas Pro-Kopf-Einkommen, klagt Awatani, liegt heute um 40 Prozent niedriger als vor der Unterzeichnung des Osloer Friedensabkommens. „Ein deprimierender Zustand“, meint er, „ganz besonders, wenn man ihn mit den stark gewachsenen Erwartungen nach dem Friedensschluß in Oslo vergleicht.“
Theoretisch existiert zwischen den palästinensischen autonomen Gebieten und Israel seit der Unterzeichnung der Pariser Protokolle im April 1994 eine Zollunion. Bis heute bilden israelische Produkte 90 Prozent aller Importe in den autonomen Gebieten. Doch umgekehrt in Richtung Israel geht der Export palästinensischer landwirtschaftlicher Produkte, dem mit Abstand wichtigsten Exportzweig des Gazastreifens, selbst bei geöffneten Grenzen praktisch gegen Null. Aufgrund des Drucks der israelischen Landwirtschaftslobby ist der Export der sechs wichtigsten palästinischen Exporte – Eier, Hühner, Gurken, Tomaten, Kartoffeln und Melonen – eingeschränkt.
Israels Verhandlungsdelegation konnte die Bedingungen des Pariser Protokolls förmlich diktieren. „Irgendwie haben wir mit uns selbst verhandelt“, gab selbst Israels Außenminister Schimon Peres gegenüber der israelische Zeitung Haarez zu. Das Ergebnis ist für Gazas Bauern bitter: Eine Zehn- Kilo-Kiste bester Exporttomaten ist derzeit in Gaza für umgerechnet eine Mark zu haben.
Die bereits im Oktober 1993 versprochenen 2,4 Milliarden Dollar Hilfsgelder der Geberländer fließen nur zäh (siehe Kasten). Das meiste Geld geht in die Verwaltung der autonomen Gebiete und vor allem die palästinensische Polizei, statt in konkrete wirtschaftliche Projekte. Israelische und palästinensische Ökonomen arbeiten jedoch weiter an der Idee, am Rande der autonomen Gebiete Industriezonen zu schaffen. Vor kurzem wurden neun derartiger Zonen offiziell angekündigt.
Die Idee, palästinensisches, israelisches und internationales Kapital dadurch anzulocken, ist nicht neu. Schon vor der Unterzeichnung des Osloer Friedensabkommens, unmittelbar nach dem Golfkrieg, gewann sie Anhänger unter israelischen Ökonomen. Demnach sollen vor allem israelische Auftraggeber Subkontrakte für arbeitsintensive Industrien an Betriebe in den neuen Zonen vergeben. Der wichtigste Teil der Infrastruktur in den Zonen, wie Elektrizität und Telekommunikation, würde von Israel gestellt. Offiziell aber ständen die Zonen unter palästinensischer Verwaltung.
So würde an der grünen Linie eine Art USA-Mexiko-Modell entstehen. Anstatt die palästinensischen Arbeiter zum Kapital (nach Israel) zu bringen, kommt das Kapital zu ihnen. An unorganisierter, billiger Arbeitskraft gibt es in der Tat keinen Mangel im Gazastreifen.
Samir Huleili, Berater des Palästinensischen Rates für Entwicklung und Aufbau, der die Vergabe von Hilfsmitteln der Weltbank koordinieren soll, hofft, daß in den nächsten fünf bis sieben Jahren 100.000 Arbeiter in diesen Industriezonen eine Anstellung finden könnten. Dann könnte die palästinensische Industrie ihren Anteil am Sozialprodukt von heute 8 auf 20 Prozent steigern. Vor einer neokolonialen Wirtschaftsbeziehung nach dem Schema Mexiko-USA hat Huleili keine Angst – und ohnehin fragt er sich: „Was für Optionen haben wir denn? Wir können unsere Arbeitskräfte weder in Israel noch in der arabischen Welt verkaufen. Also versuchen wir es jetzt so – mit bestimmten Regeln und unter Erhalt unserer Würde.“
Für den Volkswirt Hisham Awatani sind derartige Industiezonen ökonomisch gesehen eine gute Idee. Politisch stellen sie aber ein großes Problem dar, fürchtet er. Es habe eine Zeit gegeben, da war es anrüchig, in Israel zu arbeiten. Jetzt werde das schon lange nicht mehr in Frage gestellt. Selbst die islamistischen Hamas-Anhänger arbeiten dort. Auch die Zeiten, als es noch verrufen war, mit einem israelischen Auftraggeber zusammenzuarbeiten, seien vorbei. „Die rote Linie verläuft heute bei einer israelisch-palästinensischen Kapitalbeteiligung“, meint Awatani.
Die Crux der ganzen Sache sei der Kauf von Land, denn das sei die Essenz des gesamten arabisch- israelischen Konflikts. „Zu sagen, daß dieses oder jenes Stück Land einem Israeli und Palästinenser gleichzeitig gehört, ist das beste Rezept, die ganze Gegend in 24 Stunden explodieren zu lassen“, faßt der Ökonom das kurz zusammen.
Die neu geplanten Zonen haben bereits ihre Vorgänger: etwa den nach dem Golfkrieg etablierten Industriepark in Beit Hanoun, nahe der grünen Linie beim israelischen Erez-Kontrollpunkt. Für die dortige Infrastruktur ist die palästinensische Stadtverwaltung gemeinsam mit den Israelis verantwortlich. Die Firmen liefern Auftragsarbeiten nach Israel oder in die autonomen Gebiete. Hier laufen die Maschinen jedoch nur mit halber Leistung. Denn spätestens seit den häufigen Abriegelungen des Gazastreifens ist es mit dem Erfolg der industriellen Entwicklung vorbei.
Abu Alba beaufsichtigt eine kleine Zellophanfabrik mit zwölf Arbeitern. Drei Monate wurde hier wegen der Schließung der Grenze nicht gearbeitet. Die Rohmaterialien konnten einfach nicht geliefert werden, begründet Alba das. Die Arbeiter blieben ohne Bezahlung zu Hause. Jetzt haben sie mit viel Aufwand eine Ladung Rohstoffe bekommen. Die reicht aber gerade einmal für drei Tage Arbeit. Ähnliches gilt für die benachbarte Bodenplattenfabrik. Zwei Drittel der Produktion werden von hier nach Israel geliefert. Die Abriegelung des Gazastreifens hat auch hier ihre Spuren hinterlassen. „Noch vor vier Monaten sind meine Lkw wie Raketen hin und her geschossen, jetzt stehen sie nutzlos draußen herum“, erzählt der Besitzer Hassan Al-Ha'il frustriert. Nur mit Mühe findet er Transportmöglickeiten, und die kosten ihn jetzt das Vierfache. Der Endpreis seiner Produkte ist um 20 Prozent gestiegen. Einen Monat lang gab es überhaupt keine Arbeit mehr. Auch jetzt produziert die Fabrik nur noch die Hälfte.
Der Verwalter der Stoffabrik gegenüber, Ijad Habub, faßt es kurz zusammen: „Nur wer nicht alle Tassen im Schrank hat, investiert hier in den Industriesektor.“ Wer Geld hat, legt es in Immobilien an. Die neue Skyline von Gaza-Stadt ist der Beweis: Ein gutes Dutzend neu hochgezogener Hochhäuser geben Gaza von weitem fast das Image einer modernen Großstadt. Doch spätestens wenn das Taxi am Eingang zur Stadt langsam durch die ersten offenen Abwasserseen in den Straßen gleitet, wird klar, daß der Eindruck trügt.
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