: Des Physikers Dreisatz
Mit dem Dreisprung-Weltrekord von 18,29 Meter haucht der demütige Jonathan Edwards einer darbenden Disziplin wieder Leben ein ■ Aus Göteborg Peter Unfried
Wenn man wirklich etwas über Jonathan Edwards erfahren will, ist es womöglich nicht ratsam, mit Jonathan zu reden. Der ist nämlich schlicht zu bescheiden, um definitive Auskunft geben zu können. Täte er es, müßte der neue Weltmeister im Dreisprung angesichts eines nun wirklich bemerkenswerten Doppelweltrekordes (18,29 m und zuvor 18,16 m) etwas tun, was ihm nicht gegeben scheint: sich loben. Da ist es nötig, bei der Konkurrenz anzuklopfen, um zu erkunden, was die von einem Menschen hält, der als erster und nicht in Mexiko, sondern unter einem klaren schwedischen Sommerhimmel, bei zulässigem Rückenwind, über 18 Meter springt – und, noch viel wichtiger für den Commonwealth, auf die 60-Fuß-Marke. Und sich danach beständig vor dem Publikum verneigt, als sei dies der größte Zufall des Jahrhunderts. „Man kann den Kerl nicht hassen“, sagt Silbermedaillengewinner Brian Wellmann (Bermudas). Selbst wenn sie einem an der Uni von Arkansas eingebleut haben sollten, daß nur der Sieger übrig bleibt. Und jetzt kommt ein schmaler Physiker aus Gateshead, springt Weltrekord und redet nur davon, wie leid es ihm für Brian tue, daß dem als nachfolgendem Springer durch die herbeistürzenden Fotografen zweimal „der Sprung zerstört wurde“. Das Seltsame in einer durch und durch mißtrauischen Welt: Je mehr man diesen Edwards arglos strahlen sieht, je heftiger man mit seiner Demut konfrontiert wird, desto sicherer ist man, daß er, obwohl Priestersohn, tatsächlich vollkommen im sündenfreien Lager ist. Desto beklemmender wird ein schrecklicher Verdacht: Hier ruht in seinem Glauben an Gott, Frau und zwei Kinder ein richtig guter Mensch! Man muß sich das vorstellen: Edwards, wie er unaufgeregt einen gigantischen Satz macht, wie diesen: „Meine Jahre auf Erden sind Gott gewidmet.“ Und dies alles inmitten einer Veranstaltung, die zwar auch einem Gott gewidmet sein mag, Gott Nebiolo, Gott Kohle oder auch Gott Leistungistalles, aber jedenfalls nicht dem, den Jonathan meint.
Daß nun Edwards so gut ist, wie er ist, ist zu erklären – oder auch nicht. „Wenn ich einer meiner Konkurrenten wäre“, sagt Edwards selbst, „würde ich sicher denken, der ist gedopt.“ Vielzitiert ist die biomechanische Perfektion, insbesondere während der beiden Landungen. „Ich bin sicher“, sagt hierzu Wellman, „daß ich noch nie jemanden gesehen habe, der so kurz den Boden berührt wie Jonathan.“ Hop-step-jump: Wie schnell das geht, hat Bronzemedaillengewinner Jerome Romain mit den Fingern vorgeschnipst. Untersuchungen haben gezeigt, daß der studierte Physiker nicht nur die schnellste Geschwindigkeit auf den Balken bringt, sondern seine Technik auch so geschliffen ist, daß er kaum den Körper zur Zwischenlandung vorbereitet und ihn sofort wieder in Abflugposition hat. Während die kräftigeren Gegner wie Wellmann während der Flüge Geschwindigkeit verlieren, kommt Edwards mit Höchstgeschwindigkeit zum letzten Sprung, mit dem er fast noch einmal soweit springt wie beim eigentlich längsten, dem ersten. Beim Weltrekord waren es etwa 6,30 Meter.
Nun ist Edwards nicht aus dem Blauen geflogen gekommen, hat seine Jahre auf dem Buckel und war in Stuttgart 1993 knapp vor Ralf Jaros Bronzemedaillengewinner. Im Jahr danach hat er auf Vollprofi umgesattelt, sich ein Helferteam zugelegt und – Leistungsprobleme gekriegt. „Wenn ich vor der Saison einen 18 m-Springer hätte nennen müssen“, sagt Wellman und schüttelt heftig mit dem Kopf, „ich wäre nicht auf Jonathan gekommen.“ Als er ihn dann beim ersten Wettkampf sah, schon. Wellman sprach zu sich: „O, der weiß jetzt, wie's geht.“ Das hatten zuvor hauptsächlich die Weltmeister von 1987 und 1989, der Bulgare Markov und der US-Amerikaner Kenny Harrison, perfekt gewußt. Und zuvor und noch danach der Olympiasieger von Barcelona, Mike Conley, dem Edwards die Armarbeit abgeguckt hat.
Dann hing die Branche etwas durch, worauf die großen Sportfeste das Produkt mangels Nachfrage aus dem Regal nahmen. Das könnte sich nun wieder ändern. Göteborg jedenfalls hat bisher noch keine solch große Begeisterung gesehen, wie sie nach Edwards Sprüngen das Ullevi ergriff. Der Wettbewerb war danach tot, der Dreisprung aber hat im harten, darwinistischen Verdrängungswettbewerb der leichtathletischen Disziplinen prima Überlebenschancen. Noch bessere, wenn Edwards Höhenflug andere mitnehmen sollte. Und das soll er.
Da Dreisprung, wie Edwards und Wellman (28) übereinstimmend an der Geschichte seiner Besten glaubhaft machen, eine „Sache für Erwachsene“ ist, kann noch einiges kommen. Edwards kann sich vorstellen, über Kraft noch zu steigern, hält es aber, wie es seine Art ist, auch für möglich, „vielleicht nie mehr so weit zu springen“. Und Wellman? Der glaubt nun auch „zu wissen, was ich zu tun habe“. Nun, sagt er, „kann ich mir vorstellen, eines Tages 19 Meter zu springen“. Ah-uuh! Wird das ein Duell! Allerdings, einen klitzekleinen Verdacht werden wir nicht los: Wenn man wirklich etwas über Brian Wellman erfahren will, sollte man womöglich nicht unbedingt mit Brian reden. Der könnte schlicht zu wenig von dem besitzen, was Jonathan zuviel hat.
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