Wiederkehr des Verdrängten

Schützt Religion gegen die Wechselfälle der Geschichte? Hat man es auf dem Balkan mit einer Renaissance der Glaubenskriege zu tun? Wenn die Orthodoxen Angst haben, muß Europa sie ihnen nehmen. Ein Essay  ■ Von Henri Tincq

Immer wieder sagt man sich – zu Recht, und um sich zu beruhigen —, daß die Konflikte auf dem Balkan oder an der südlichen Peripherie des ehemaligen Sowjetstaates (Kaukasien, Zentralasien) keine Glaubenskriege sind. Man betrachtet sie auch im allgemeinen nicht unter abstrakten Begriffen wie „Pan-Slawismus“, „Pan-Orthodoxie“ oder „Pan-Islamismus“. Dennoch regt sich, angesichts sich zuspitzender nationaler, ethnischer und religiöser Verwicklungen, die Furcht vor einer „Wiederkehr des Verdrängten“, des Religiösen, namentlich des Islam und des Christentums.

Wie ist es dazu gekommen? In den Balkanländern, in Armenien oder in Georgien spielt das „religiöse Gedächtnis“ eine gewichtige Rolle. Die Religion wurde hier mitunter zum Garanten eines Nationalbewußtseins, das besser gegen die Wechselfälle der Geschichte gefeit zu sein scheint als säkulares Selbstverständnis. Mehr noch als jede andere Gruppe beziehen die Orthodoxen ihre Identität aus dieser Art von Erinnerung. Deshalb erscheinen einem die Vorstöße der Serben im Westen oder die Anschuldigungen der Griechen gegen ihre Nachbarn – ob nun berechtigt oder nicht – als seltsamer Ausdruck eines nachgerade archaischen Nationalismus, als nostalgische Expansionsträume und Restaurationsbegehren. Unter den großen Kulturen der Orthodoxie – der slawischen, griechischen, kaukasischen, latinischen (Rumänien) oder nahöstlichen – ist die Bedrohung durch einen gewalttätigen islamischen Fundamentalismus am größten in den letztgenannten. Zugleich aber verfügen diese Regionen des Nahen Ostens auch über die längsten Erfahrungen eines gewissen friedlichen Zusamenlebens zwischen Islam und Orthodoxie.

Diese Patriarchate waren allesamt Abkömmlinge der ersten Kirchenzeit von Jerusalem, Antiochien und Alexandrien. Sie hatten noch beim Fall von Syrien, Palästina, Ägypten und Nordafrika eine Rolle gespielt. Vom siebten Jahrhundert an fielen sie, eines nach dem anderen, an den Islam, nachdem sie von arabischen Invasoren unterworfen worden waren. Nach den Kreuzzügen fiel zuerst Konstantinopel nach dem Angriff der Türken (1453), später Athen (1456), schließlich Serbien; die Mongolen, die 1240 in das riesige christianisierte Gebiet der russischen Ukraine eingewandert waren, konvertierten im 14. Jahrhundert zum Islam.

Erinnerungen an das Osmanische Reich

Während in den Muslimen heute noch die schmerzvolle Erinnerung an die Kreuzzüge und die christlichen Reconquistas weiterlebt, zehrt am Gedächtnis der Orthodoxen in Griechenland, Serbien und Mazedonien vergangenes Unrecht und sechs Jahrhunderte osmanischer Belagerung wie gelöschter Kalk in einer Wunde. Aber die Orthodoxen wissen auch, daß sich das Christentum auf dem Balkan, im Orient und an den südlichen und östlichen Rändern Europas nur aufgrund einer reichen liturgischen und patristischen Tradition durch so viele Okkupationen – arabische, osmanische und sowjetische – hindurch hat halten können. Ihre scheinbare Unbeweglichkeit, die den Westen immer so befremdet, hat keinen anderen Grund, als das Bewußtsein dieser außergewöhnlichen historischen Kontinuität, das sich dem geistlichen Erbe verdankt.

Eine neue Seite mußte im Lauf des 19. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts aufgeschlagen werden, als das Osmanische Reich auseinanderbrach und die Türkei eine laizistische Republik wurde. Die arabischen Völker erlangten die Unabhängigkeit, die Slawen, Griechen und Rumänen wurden freie Völker. Heute aber liegt eine Art Fatalität über dem Ganzen.

Zu den Ungleichheiten, die die Geschichte hinterlassen hat, kommt das Wiederauflammen des Nationalismus, der Aufstieg des islamischen Fundamentalismus, die Schwächung der Kirchen durch die Verfolgung unter den kommunistischen Diktaturen – all das führt dazu, daß vom Süden bis zum Osten Europas die Spannungen, aber auch die utopischen Zukunftsentwürfe zunehmen.

Die Linien dieser neuen „Front“, an der es mal friedlich, mal militant zugeht, muß man genau bestimmen und sich vor Verallgemeinerung hüten: Bosnien, das griechisch-türkische Gebiet, der Kaukasus und Zentralasien. Man kann aus der Lage dieses Terrains nur die Schlußfolgerung ziehen, daß die ethnische Frage auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion im Vordergrund steht vor der religiösen, während auf dem Balkan im Gegensatz dazu die ethnische Frage die religiöse Frage ist.

Der Konflikt in Bosnien, wo sich die „Nationen“ durch ihre religiösen Gemeinschaften definieren, ist dafür der beste Beleg. Das Projekt „Großserbien“ ist seit dem Mittelalter im Gedächtnis eines mystischen Serbien verwurzelt. Sein Kern war der Kosovo, das Heiligtum der nationalen und religiösen Geschichte, das Symbol des Widerstands gegen die muslimischen Türken und später gegen die Katholiken Österreich-Ungarns. Die dreifache Verfolgung durch den Einmarsch der Nazis, durch den kroatischen Faschismus und den Kommunismus Titos hat bei den serbischen Nationalisten die Angst vor einer Verschwörung geweckt: Sie sehen die „Allianz“ zwischen dem „Germanismus“, dem kroatischen Katholizismus und dem bosnischen Islamismus als eine Wiederholung der schlimmsten Episoden ihrer Geschichte, die Zeit, als „das orthodoxe Serbien aus den Händen der muslimischen Osmanen der Indifferenz katholischer Mächte zum Opfer fiel“ (François Thual).

Aber läuft das nicht, wie schon Tarequ Mitri, Orthodoxie-Experte des Rats der ökumenischen Kirche in Genf sagte, auf eine „Über-Islamisierung“ der bosnischen Identität hinaus, auf eine Gleichsetzung von „gefährlichen Bosniern“ und „gefährlichen Islamisten“? Bis 1971, dem Jahr, als der Islam in Bosnien zu einer „Nation“ auf dem jugoslawischen Kaleidoskop wurde, lebten die konvertierten Slawen in Bosnien in bester Eintracht mit den anderen Konfessionen; jegliche Formen einer islamischen Regierung waren ihnen fremd. Nach der erzwungenen Säkularisation zu Beginn der Ära Tito, dem autoritären Verbot des Schleiers, den Scharia-Tribunalen und der Zunahme religiöser Schulen stellte sich die muslimische Identität langsam wieder her. Vor allem den städtischen Eliten erschien sie als brauchbare Alternative zur kommunistischen Ideologie.

Nachdem der Glaube und die religiöse Praxis fast ausgelöscht worden waren, blieb zunächst vom Islam, wie Bosnienkenner Xavier Bougarel schreibt, „eine rein symbolische Referenz“, und das lange vor dem Zerfall der Alltagsbeziehungen und den tragischen Entwicklungen dieser Tage. Die Desaster des Krieges, die Zerstörung der Moscheen, die Gewalttaten serbischer Soldaten – läuft all das nicht darauf hinaus, schon morgen eine Gemeinschaft von Flüchtlingen und Belagerten zum Eintritt in das große Heer der „Islamisten aus Verzweiflung“ zu verleiten?

Solidarität unter den Muslimen?

Die andere Frage, die sich in diesem Zusammenhang aufdrängt, ist die der Ausweitung des Konflikts. Sie könnte eine ganze Region erfassen, in der Christen und Muslime zusammenleben. Für Kenner der Region ist das nicht von vornherein in dem Konflikt angelegt. Das bosnische System, in dem, wie gesagt, die Nation mit der Religion identifiziert ist, gibt es nirgendwo anders; das gilt auch für die unmittelbaren Nachbarn. In Albanien beispielsweise entsteht die nationale Identität eher in Reaktion auf die Konfessionen. Und in Bulgarien, das zum größten Teil orthodox ist, vervollständigt die muslimische Religion sozusagen die nationale und sprachliche Identität und wird nicht aus ihr ausgeschlossen. Die Solidarität zwischen den Muslimen auf dem Balkan ist deshalb alles andere als selbstverständlich.

Der Krieg in Tschetschenien und die Spannungen in der Kaukasusrepublik und in Zentralasien lassen sich überhaupt nicht religiös interpretieren. In einem Land wie Tschetschenien, das von der Armee in Schach gehalten wird, ist der Islam zweifellos eine Ersatzidentität. Die massenhafte Verteilung des Koran, die Eröffnung neuer Moscheen und die Ausbildung der Imams zeugen von einer neuartigen Verbindung zwischen tschetschenischem und muslimischem Selbstverständnis. Aber der Patriarch Alexis II. von Rußland hat vom ersten Augenblick des Bombardements von Grosny an im vergangenen Herbst die militärische Intervention entschieden verurteilt und sich darüber auch mit dem Großmufti Tschetscheniens ins Benehmen gesetzt.

Auch in den Republiken Zentralasiens erscheint das Risiko eines Wiederaufflammens des religiösen Fanatismus eher gering. Zweifellos könnte die Infiltration durch iranische oder türkische Fundamentalisten das Gleichgewicht der Kräfte stören. Wenn man allerdings einmal von Tadschikistan absieht, ist der Islam in diesen Ländern wenig aggressiv oder militant. Der Hauptgrund dafür liegt in der Nähe zu einer turkophonen Kultur, die einem kompromißlosen Islam iranischen Typs eher skeptisch gegenübersteht. Was die russischen Minderheiten orthodoxen Glaubens betrifft, so gilt deren Hauptsorge weder einer religiösen noch einer politischen Sicherheit. „Sie wissen“, so CNN-Korrespon

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dent Olivier Roy, „daß sie von Moskau nicht viel zu erwarten haben. Sie wußten es vor dem Krieg in Tschetschenien, und jetzt wissen sie es erst recht.“

In der orthodoxen Welt kann man dennoch beobachten, wie sich, neben der pragmatischen Haltung des Patriarchen von Moskau (gegenüber den tschetschenischen Muslimen) oder seines Amtsbruders von Istanbul, dennoch wieder eine Tendenz zur Dämonisierung des Islam breitmacht. Das trifft in zunehmendem Maß für Serbien zu, für den Kosovo, für Griechenland (jedenfalls gegenüber den Türken), für Mazedonien, aber auch für die Länder des Kaukasus wie Armenien, das seinen territorialen Konflikt mit Aserbaidschan um Bergkarabach nicht gelöst hat. Das gilt auch für Georgien, das sich mit aufständischen Minderheiten wie den Abchasen oder den Osseten konfrontiert sieht. Der antitürkische Wahn in diesen Ländern regt sich sechs Jahrhunderte nach der osmanischen Okkupation des Balkan, aber auch in Folge zweier kürzer zurückliegender Ereignisse: dem Genozid an den Armeniern von 1915 und dem griechisch-türkischen Krieg von 1922, der mit der Vertreibung von zwei Millionen Griechen aus Anatolien endete. Heute schüren die regionalen Expansionsgelüste der Türkei, die Unterdrückung der Kurden und der Kampf der islamischen Fundamentalisten gegen das laizistische Staatsmodell von Atatürk das Mißtrauen.

Die Unruhe, die in Griechenland durch die Affäre Mazedonien enstanden ist, hat ebenfalls zu einer Verhärtung der orthodoxen Haltung gegenüber dem Islam und dem Katholizismus beigetragen. Die Orthodoxen scheinen noch weniger als die Katholiken oder die Protestanten gewappnet, den nicht-christlichen Theologien etwas entgegenzusetzen. Ihr Weltbild ist ein eher „exklusives“, auf Ausschließung basierendes. Als Antwort auf die islamische Bedrohung, die bereits als „grüne Linie“ quer durch den Balkan bezeichnet wurde, ist im kollektiven Imaginären der Orthodoxen, das sich aus einer Nostalgie für Byzanz speist, schnell wieder die Traumachse Athen-Belgrad-Sofia-Bukarest- Moskau entstanden.

Auch wenn der jugoslawische Konflikt die Reihen zwischen den orthodoxen Ländern wieder fester geschlossen hat – eine solche „Achse“ hat nie existiert. Im Gegenteil, die orthodoxe Welt war immer gespalten durch Rivalitäten zwischen Griechen und Bulgaren, zwischen Konstantinopel und Moskau, zwischen Rumänien und Rußland. Bulgarien zum Beispiel stand einmal auf der russischen Seite, dann wieder auf der griechischen, dann schließlich auf türkischer, gegen die Russen und die Griechen... Die wahnsinnigen Expansionsträume und Selbstverteidigungsobsessionen machen einmal mehr deutlich, wie groß die europäische Verantwortung ist: Man muß verhindern, daß sich die orthodoxen Länder doppelt in die Zange genommen fühlen, von einer umma [Nationenbund, normalerweise nur im Zusammenhang mit islamischen Nationen, d.R.] der Christen im Westen einerseits, und einer umma von Muslimen andererseits.

Der Autor ist Korrespondent der Tageszeitung „Le Monde“. Übersetzung aus dem Französischen von Mariam Niroumand