: Freude und Aufatmen in Bihać
1.201 Tage stand die Enklave unter Belagerung. Ein Sack Mehl kostete 1.000 Mark, ein Kilo Kaffee 60 und Zigaretten 20 Mark. Zuletzt gab es fast nichts mehr zu essen ■ Aus Bihać Erich Rathfelder
Angespannt sehen sie aus, die Soldaten der kroatischen Armee, die an der ehemaligen Demarkationslinie zu den serbischen Gebieten in Kroatien Dienst tun. Noch am Sonntag und Montag haben sie geschossen und die Gebiete um das Naturdenkmal Plitvize eingenommen sowie einen Korridor zu der Enklave Bihać hergestellt. Antec ist stolz darauf: „In 82 Stunden war alles vorbei, wir sind die beste Armee der Welt.“
Inzwischen ist die Routine zurückgekehrt. Am Kontrollpunkt bei Josipdol sollen Autos und ihre Insassen untersucht werden, die in die „befreite“ Zone fahren wollen. Plünderungen sollen angeblich verhindert werden.
„Wir haben in jedem eroberten Dorf einen Polizeiposten eingesetzt“, sagt Antec. Doch als ein Bekannter in die Zone fahren will, sieht er ihm nur zu. Und als ein anderer Freund mit einem kleinen Lastwagen Einlaß begehrt, spricht er nur ein paar Worte mit ihm. Spezielle Papiere zum Eintritt in die zurückeroberte Zone sind nicht notwendig.
Die Straße schlängelt sich durch ein grünes Tal. Die Gräser und Blumen der Wiesen sind unberührt. Hier an der Frontlinie ist ein kleines Naturreservat entstanden. Doch ein Blick auf die Straße holt den Betrachter schnell in die weniger idyllische Wirklichkeit zurück. Artillerieeinschläge haben große Löcher in den Asphalt gerissen. An den ausgebrannten Panzern kann der Blick nicht vorbei.
Am ehemaligen Kontrollpunkt der UNO hängt nur noch eine zerrissene Fahne der Weltorganisation, die Sandsäcke und das Kontrollhäuschen sind zerstört. Die Fahrt geht weiter, nun direkt in das ehemals von Serben besetzte und bewohnte Gebiet hinein. Der Wald rückt näher an die Straße. Im Wald, sagen die kroatischen Soldaten, seien noch serbische Freischärler versteckt, die schon einige Autos beschossen hätten.
Bald ist das nächste Dorf erreicht. Der Polizeiposten prüft die Papiere. Kein Lebenszeichen rührt sich. Das Dorf scheint keine Einwohner mehr zu haben. Die Scheunentore der großen Bauernhöfe stehen offen, ein Traktor ist noch an einen Heuwagen angespannt, die Werkstatt des serbischen Bauern, der hier noch vor kurzem lebte, ist durchwühlt. Werkzeuge und allerlei Ersatzteile liegen wild durcheinander.
Am vergangenen Sonntag öffnete die kroatische Armee den Korridor nach Bihać; 30 Kilometer rückte sie an einem Tag vor. Auch ein paar Kilometer weiter gibt es noch kein menschliches Lebenszeichen, einmal abgesehen von einem kroatischen Panzer, dessen Besatzung die Kanone auf den Wald gerichtet hat. Dieser Wald muß nun durchquert werden, um nach Plitvize und zur Straße nach Bihać zu gelangen. Einzelne zerstörte Gehöfte säumen den Weg, diesmal sind es Häuser, die bei den Kämpfen 1991 zerstört worden sind, Häuser, die Kroaten gehörten.
Nach einer Wegbiegung ist Rauch zu sehen. Ein brennendes Haus, das Haus einer serbischen Familie. Auf der Straße laufen einige ausgemergelte Gestalten und ziehen einen Leiterwagen hinter sich her.
Es sind Frauen aus der Enklave Bihać. Sie lachen. „Bihać ist nun frei“, ruft eine. Und sie erklären, sie wollten zurück zu ihrem Haus, das nur wenige hundert Meter entfernt in der ehemals serbisch besetzten Zone liege. „Wir waren Flüchtlinge in Bihać, das Haus wird nun wieder aufgebaut.“
An der Grenze von Kroatien zu Bosnien feiern die bosnischen Soldaten. „Endlich sind wir wieder frei. Dort waren die serbischen Artilleriestellungen, die auf Bihać schossen“, sagt ein Soldat und deutet auf den Höhenzug direkt vor uns. Trotz der ständigen Gefahr sind die Felder hier mit Mais bestellt. Auch Kartoffeln wachsen hier. „Wir konnten oft nur nachts auf den Feldern arbeiten“, sagt ein Bauer, der wie alle Männer der Enklave Bihać im 5. Corps der bosnischen Armee dient. „Zehn Tage in der Armee, zehn Tage auf dem Feld, das war unser Leben.“ Auch er ist dünn geworden. „Als Bauern hatten wir es ja noch besser, aber den meisten Leuten ging es sehr sehr schlecht.“
Nermin und Senada wollen nach Bihać mitfahren. Die beiden jungen Leute leben in einem modernen Wohnblock in der Stadt. „Zuerst konnte ich die Nachricht von unserer Befreiung gar nicht glauben“, sagt Senada und lacht. Die ehemalige Krankentherapeutin spürt den Hunger nicht mehr. Bald wird es alles zu kaufen geben. „Zuletzt hatten wir fast nichts mehr zu essen, wir hofften jetzt auf dem Land bei den Bauern etwas zu ergattern.“
50 Kilogramm Mehl hätten vor kurzem noch 1.000 Mark gekostet, ein Kilo Kaffee 60 und Zigaretten 20 Mark. „Das wurde über den Schwarzhandel von den Serben in die Enklave gebracht.“ Über die internationalen Organisationen sei nur noch wenig humanitäre Hilfe in die Stadt gelangt. „Wir auf jeden Fall haben nichts davon gesehen.“ Ihre Verwandten schickten ab und zu Geld aus Österreich, das mit dem kleinen Flugzeug der kroatisch- bosnischen Armee oder mit dem Hubschrauber der Bosnier in die Enklave transportiert worden ist. „Wer Geld in den Flugzeugen hatte, die abgeschossen wurden, hat Pech gehabt“, grinst Nermin.
„Vor einigen Tagen hast du nur ernste Gesichter gesehen, jetzt siehst du schon manche lachen“, sagt Munid Cevnošić, ein 61jähriger Mann, der als Gastarbeiter aus Deutschland eine Rente bezieht. „Damit kamen wir, ich meine Tochter und Enkelkinder, über die Runden, wir sind nicht verhungert. Mein Haus hat über 200 Einschlaglöcher von den Gewehren, eine Granate landete in unserem Garten“, erzählt er. „Aber wir haben überlebt. Der Krieg wird bald zu Ende sein.“
Auch Samira ist dieser Ansicht. „Vor Tagen glaubte ich manchmal, ich könnte nicht mehr.“ Jetzt aber sei alles anders geworden, sagt die 27jährige Journalistin und Soldatin.
Ihr Vater war schon 1992 von einer Granate getroffen worden, ihre Mutter und Schwester wurden 1993 durch Granatsplitter getötet. „Seither habe ich versucht zu überleben, ich versuchte Nachrichten ins Ausland zu senden, manchmal glaubte ich, daß niemand mehr etwas von uns wissen will.“
Der Weg führt hinaus in die Berge, die vor Bihać liegen. Zerstörte Dörfer sind zu sehen, die ehemals von Kroaten bewohnt waren, kein Haus ist mehr intakt, bei manchen gibt es nur noch Mauerreste. Auf den Mauern stehen Inschriften in kyrillischer Schrift. „Bihać vier Kilometer“, ist zu lesen. Die Angreifer haben ihre Unterschrift zurückgelassen, „Vod smirti“ (Gruppe des Todes), „Wölfe von Vlasić“ oder einfach „Knesevo“, eine Einheit aus Serbien, lauten die Namen. „Ja, es gab hier immer Einheiten aus Serbien, nicht nur kroatische und bosnische Serben haben hier angegriffen.“
Mehmed C. hat die Stadt verteidigt. Der 25jährige ist Mitglied der 505. Brigade, die überall eingesetzt wirde, wo die Front zu wanken begann. Er war auch dabei, als das 5. Korps im Oktober 1994 einen Ausbruchversuch wagte. Sie stießen 40 Kilometer vor, überrannten die Serben hier bei diesen Dörfern. Die Offensive wurde gestoppt. Und bei der serbischen Gegenoffensive wurde ein Teil der bosnischen Truppen aufgerieben. „Anfang November 1994 haben sie diese Dörfer wieder eingenommen und ihre Artillerie hier an der Straße aufgebaut“, sagt Mehmed C. Unter uns liegt die Stadt Bihać zum Greifen nahe.
Der Kommandeur der kroatisch-bosnischen Truppen HVO, Ivo Prso, sagt: „Wir hätten noch ein paar Tage durchgehalten, mehr aber nicht.“ Die Schwierigkeiten mit der Munition, der Mangel an Waffen hätten ihnen zu schaffen gemacht. Der Kommandeur dankt den kroatischen Truppen für die Befreiung von Bihać. „Nach einer Pause wird die Offensive bis zur Befreiung Bosnien-Herzegowinas fortgesetzt“, fügt er hinzu.
Mehmed, ein Muslim, galt im Krieg als tapferer Soldat. Er ist nachdenklich geworden. Er will Bosnien wiederhaben, und „dazu gehören auch die Serben“. Aber mit „Tschetniks“ könne er nicht mehr zusammenleben. Sein bester Freund, ein Serbe, wollte 1994 auf die serbische Seite wechseln, um nach Kanada zu gelangen. „Sie haben ihn getötet, weil er zwei Jahre unter uns gelebt hat.“ So will Mehmed nicht weiterleben. „Wir müssen in Bosnien und Kroatien zu den kulturellen Normen zurückkehren, so etwas soll sich nicht mehr wiederholen,“ sagt er.
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