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Der Bahnsteig ist für MusikerInnen tabu

■ Jede Woche vergibt die BVG Lizenzen zum Musizieren im Untergrund. Nur auf 54 von 166 U-Bahnhöfen darf Musik gemacht werden, auf den S-Bahnhöfen gar nicht

Mittwoch früh, 6.45 Uhr auf dem Mitteldeck des U-Bahnhofs Kleistpark: Ramon sitzt auf dem Boden. Er hat die Beine angezogen und seinen Kopf auf die verschränkten Arme gelegt, er döst. Neben ihm an der Wand lehnt seine Gitarre. Mit der verdient sich der 23jährige Student aus Chile sein tägliches Brot. Ramon wartet darauf, daß der BVG-Sonderschalter für „Musikgenehmigungen“ aufmacht und die Plätze für Musiker vergeben werden.

An diesem Morgen sind es nur acht Musiker, die eine Berechtigung erwerben wollen. „Das ist wegen dem Sommerloch. Sonst stehen hier vierzig Leute Schlange – und dazu noch dieses babylonische Stimmengewirr“, sagt BVG- Sachbearbeiter Bernd Hofer. Fünf der Musiker kommen aus Osteuropa, die drei anderen sind Südamerikaner. „Deutsche sind hier sehr rar“, weiß Hofer. Die Genehmigung kostet 12,50 Mark pro Tag. Gespielt werden darf auf dem „gekauften Bahnhof“ von 6 bis 22 Uhr. Maximal für eine Woche wird eine Erlaubnis vergeben. Über die Bahnhöfe wird per Los entschieden. Zu den Rennern gehören die Stationen Hallesches Tor, Möckernbrücke, Spichernstraße und Stadtmitte.

Vladimir Popov hat nur das Los mit der Nummer sechs gezogen. Das macht ihm aber nichts. Außerdem hat er schon einen Lieblingsplatz: Meistens steht der kleine grauhaarige Mann mit dem seligen Lächeln am Ausgang des Bahnhofs Bundesplatz, wo er zu den Klängen seines Akkordeons russische Balladen singt. „Dort ist es schön ruhig, und die Leute kennen mich schon. Eine Frau hat mir sogar Kleidung für meine Kinder geschenkt“, freut sich Popov. Er ist erst seit einem Monat in Berlin, will aber in ein paar Wochen wieder zurück nach Essentaki im Nordkaukasus. Der 48jährige Russe ist ausgebildeter Musikwissenschaftler und hat 25 Jahre als Chordirigent gearbeitet. „Seit Jahren gibt es bei uns aber keine Arbeit mehr“, sagt Popov. Deshalb sei er nach Berlin gekommen. Die rund vierzig Mark, die er hier am Tag zusammenspielt, verdient er in seiner Heimat im ganzen Monat.

Glück hat Vladimir Popov, daß er legal nach Deutschland eingereist ist. Denn die BVG verlangt seit neuestem eine polizeiliche Anmeldung. Dabei hatte BVG-Sprecher Hans Wazlak im März noch verkündet, „solange sich die Musiker an unsere Hausordnung halten, interessiert uns das nicht“. Ohnehin darf aus sicherheitstechnischen Gründen nur auf 54 von 166 Berliner U-Bahnhöfen musiziert werden. Auch die Standorte, an denen das Spielen erlaubt ist, sind genau festgelegt – nicht auf den Bahnsteigen, sondern nur in den Ausgängen, Vorräumen und Übergängen. Sowohl die BVG- Betriebsaufsicht als auch der Wachschutz und die Zugabfertiger dürfen die Musiker kontrollieren. Von diesem Recht machen sie „übertrieben häufig“ Gebrauch, beschwert sich ein U-Bahnmusiker. Auch in den Waggons ist das Musizieren verboten. Wer dabei erwischt wird, erhält in der Regel aber nur einen „Verweis“.

Bei der S-Bahn hält man noch viel weniger von einer musikalischen Unterhaltung: „Unsere Hausordnung läßt Betteln, Schwarzfahren und Musizieren nicht zu“, erklärt Gottfried Köhler, Sprecher der „S-Bahn Berlin GmbH“, lapidar. Seine „persönliche Meinung“ verhehlt er nicht: „Unlängst habe ich wieder einen auf seiner Geige, die nur eine Saite hatte, spielen hören, das war grauslig.“ Er spricht mit Volkes Stimme – auch bei der BVG gehen regelmäßig Beschwerdebriefe ein, in denen das unerlaubte Musizieren in den Zügen mokiert wird.

Da haben es die MusikantInnen über Tage einfacher. Nur wenn sie an einem festen Ort stehen, brauchen sie eine gebührenpflichtige „Straßennutzungserlaubnis“. Allerdings schimpfen AnwohnerInnen häufig über den Lärm der StraßenmusikerInnen. Die Holländerin Petra Loor trommelt seit drei Jahren in und vor den Cafés in der Oranienburger Straße. Sie hat noch nie Ärger mit der Polizei oder AnwohnerInnen bekommen, obwohl ihre Konga nicht gerade leise ist. In drei Stunden verdient sie bis zu zweihundert Mark. „Natürlich profitiere ich davon, daß ich eine Frau bin“, sagt Petra. Doch sie glaubt, daß ihr Erfolg andere Gründe hat: „Wenn ich mich erst einmal in Trance getrommelt habe, werden auch die Zuhörer hypnotisiert, und dann sitzt ihnen das Geld lockerer.“ Ole Schulz

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