: Nüchternheit am Millerntor
FC St. Pauli – München 1860 4:2. Eher reserviert nahmen die Spieler des Aufsteigers ihre ersten drei Bundesligapunkte entgegen ■ Aus Hamburg Christoph Biermann
Fast übellaunig schleppte Michél Dinzey seine Sporttasche aus der Umkleidekabine. Mürrisch schaute der 22jährige Mittelfeldspieler des FC St. Pauli durch seine großrahmige Nickelbrille und führte Klage über sich. „Viel abgeklärter und ruhiger“ hätte er eigentlich spielen wollen, erklärte er so knurrig und ernsthaft, wie sonst nur Matthias Sammer seine Leistung zu beurteilen pflegt. Ja, er würde sich schon freuen, daß sie gewonnen hätten, gestand er leicht nölend zu. Dann riß er ironisch die Arme hoch und wischte jegliches Lob für seine Leistung vom Tisch, schließlich „muß man immer schauen, daß man es noch besser macht.“
Aber Dinzey, der vom VfB Stuttgart wegen angeblich mangelnder Einstellung nach Hamburg ausgeliehen worden war, blieb nach dem Auftaktspiel nicht als einziger reserviert. Während auf den Rängen die ganze paulianische Paadie-Maschine auf höchsten Touren lief, präsentierte sich der sportliche Flügel nachgerade unterkühlt. Mannschaftskapitän Carsten Pröpper konstatierte gerade mal „einen guten Start im Kampf gegen den Abstieg“, während Sturmtalent Jens Scharping schon etwas erfreuter bilanzierte, „daß wir in der Bundesliga mithalten können“. Genau das war von vielen jenseits des Millerntors bezweifelt worden.
Selbst Trainer Uli Maslo gab hinterher zu, daß der Saisonstart für ihn „mit vielen Fragezeichen verbunden“ gewesen sei. Über den Jubel, den Auftaktsieg, die vier Tore im ersten Spiel und eine mindestens 24stündige Tabellenführung setzte er sich hinweg, als sei das alles gar nicht geschehen, und bat um Geduld. Seine Mannschaft sei sehr jung, und manches brauche noch Zeit.
Mit den Ansätzen in einem mittelmäßigen Spiel konnte Maslo allerdings zufrieden sein. Seinem Team hatte er zum Saisonstart die schon in der zweiten Liga bewährte 1-2-5-2-Norm verpaßt. Im deutschen Standardsystem bewies Dammann als Ausputzer, daß er in 10.923 langen Zweitligaminuten (vom Pauli-Fanzine „Unhaltbar!“ handgezählt) sein Handwerk gelernt hat. Mit Trulsen und dem 31jährigen Amerikaner Paul Caligiuri stehen zwei solide Vorstopper an seiner Seite. Beide hatten mit ihren Gegenspielern Lesniak und Winkler relativ wenige Probleme, die sie gegen etwas engagiertere und raffiniertere Gegner aber sicherlich noch bekommen werden. Auf der rechten Seite begann St. Pauli mit dem Pärchen Sobotzik (offensiv) und Hanke (defensiv), die beide sehr aufgeregt wirkten. Wesentlich stärker waren links der Pole Szubert (eher offensiv), in der zweiten Halbzeit durch Springer ersetzt, und der streckenweise sehr gute Dinzey (eher defensiv).
Die Last der Spielgestaltung lag vornehmlich auf den Schultern von Carsten Pröpper. Daß der wichtigste Akteur im Spiel des FC St. Pauli dabei mehr Unterstützung benötigt, war nicht zu übersehen. Sturmspitze Juri Sawitschew, dem das Spiel in der Bundesliga offensichtlich noch mehr Spaß macht als in der ungeschlachteren zweiten Liga, bildete die Offensive zusammen mit Ralf Becker, einem 24jährigen aus der Bayer-Leverkusen- Talentfabrik.
Becker war es auch, der mit einem schönen Hackentrick den eigentlichen Saisonstart von St. Pauli einleitete. Zuvor war eine halbe Stunde fast nichts passiert, ehe der Bulgare Daniel Borimirow einen Konter zum 0:1 abschloß. Genau diesen Treffer brauchte St. Pauli, um „wach zu werden und engagierter zu spielen“, wie Uli Maslo meinte. Und eben Beckers Trick, dem schon zwei Minuten nach dem Rückstand Münchens braver Abwehrrecke Miller zum Opfer fiel. Becker gab auf Pröpper zurück, und der glich aus. Damit dauerte der Grusel eines Flops zum Auftakt nur kurz, und St. Pauli kamen danach die Ungeschicklichkeiten der Münchner entgegen. Freundlicherweise trat Kutschera im Strafraum Sawitchew um, der eingewechselte Scharping verwandelte den Elfmeter. Thomas Miller fälschte einen Schuß von Dammann zum 3:1 ab. Und Bodden setzte nach einer Ohrfeige gegen Caligiuri die Rot-Serie der Löwen aus dem Vorjahr fort.
Daß St. Pauli trotz Überzahl immer wieder in Not geriet, den Anschlußtreffer kassierte und erst in der Schlußminute den Sieg sicherte, zeigte aber auch, daß die Reserviertheit von Mannschaft und Trainer so unberechtigt nicht war. Doch neben vielen Fragezeichen gibt es nach dem ersten Spiel zumindest ein paulianisches Ausrufezeichen: Der Klassenerhalt ist möglich!
München 1860: Meier - Trares - Kutschera (89. Heldt), Miller - Jeremies (53. Rydlewicz), Schwabl, Nowak, Stevic, Borimirow - Winkler, Lesniak (53. Bodden)
Zuschauer: 20.725; Tore: 0:1 Borimirow (37.), 1:1 Pröpper (39.), 2:1 Scharping (49./ Foulelfmeter), 3:1 Dammann (54.), 3:2 Borimirow (82.), 4:2 Sawitschew (90.)
Rote Karte: Bodden (72./Tätlichkeit)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen