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Kämpfen Tschetschenen bald gegen Tschetschenen?

■ Präsident Dudajew will seine Truppen nicht entwaffnen – im Gegensatz zu seinem Unterhändler. Auch die moskautreuen Tschetschenen sind sich nicht einig

Moskau (taz) – Die Umsetzung des Ende Juni in Grosny vereinbarten Waffenstillstandsabkommens kommt nicht voran. Weder händigen die Freischärler ihre Waffen aus, noch zieht sich die russische Armee auf die vorher vereinbarten Demarkationspunkte zurück. Präsident Jelzin rief gestern überraschend Premier Wiktor Tschernomyrdin, den Innen- und den Nationalitätsminister sowie den Kommandeur der russischen Streitkräfte in Tschetschenien zu einer Besprechung in den Kreml. In Grosny hatte Innenminister Kulikow am Wochenende bereits ein härteres Vorgehen angekündigt: „Wenn die tschetschenische Seite darauf besteht, daß die reguläre Armee der Republik sich nicht entwaffnet, werden wir einseitig fortfahren, Dudajews Einheiten zu entwaffnen.“ Kulikows Äußerung wurde weithin als Drohung verstanden, eine sofortige Wiederaufnahme der Kampfhandlungen wird aber nicht erwartet. Mißtrauen beherrscht das Geschehen.

Nach Angaben des persönlichen Vertreters von Präsident Dudajew in Moskau, Chamad Kurbanow, hatte der tschetschenische Geheimdienst letzte Woche einen Sprengsatz mit Fernzündung an seinem Jeep entdeckt. Dieser war von russischen Wachposten für einige Tage konfisziert worden. Kurbanow unterstellt, daß auf ihn und Dudajew ein Anschlag geplant gewesen sei.

Während die politischen Verhandlungen so kaum vorankommen können, wird auch die Zersplitterung der tschetschenischen Führung immer deutlicher: Präsident Dudajew befahl seinen Gefolgsleuten, die Waffen nicht auszuhändigen. Sein Stabschef Maschadow ist dagegen bemüht, das Übereinkommen mit Moskau nicht zu unterlaufen. Die Frage ist, ob Dudajews Leute noch auf ihren Präsidenten hören oder, im Falle einer Auseinandersetzung, Maschadow unterstützen werden.

Immer mehr Parteien melden sich zu Wort. So etwa der Vorsitzende des „Komitees nationaler Eintracht“, der Tschetschene Umar Awturchanow. Er gehörte zu den Befürwortern des russischen Einmarsches und diente Moskau seither als Marionette. Er warnte: „Ein Bürgerkrieg in Tschetschenien ist heute wahrscheinlicher denn je.“

Der Präsident der ebenfalls vom Kreml gesteuerten Regierung der nationalen Wiedergeburt unternahm dagegen einen spektakulären Schwenk: „In der Souveränitätsfrage gibt es mit den Vertretern Dudajews keine Differenzen.“ Folglich fordern die ehemaligen Oppositionellen des Dudajew-Regimes nun ebenfalls vorbehaltlose Unabhängigkeit. Moskau müßte das zutiefst beunruhigen, da es seine Position bei den Verhandlungen schwächt. Die angedeutete Kehrtwende entspringt zwei Motiven: Die Opposition fürchtet, beim Abzug der russischen Armee vor die Läufe der Freischärler zu geraten. So gilt es, im Vorfeld noch gut Wetter zu machen. Natürlich ist sie enttäuscht, daß Rußland sich überhaupt auf Gespräche mit der anderen Seite eingelassen hat. Dadurch sanken ihre Chancen, sich an der Macht zu halten. Relativ klar ist, daß die Gruppierungen, die für die Unabhängigkeit Tschetscheniens eintreten, die nächsten Wahlen gewinnen werden. Danach wird unter ihnen dann die Schlacht um die Führungsrolle im Lande ausbrechen.

Der Kreml hat sich durch die Verhandlungen in eine prekäre Lage manövriert, die ihm weder Bewegungsspielraum noch verläßliche Partner läßt. Ob Wahlen, die nach Moskauer Vorstellungen der Klärung des Status der Republik vorangehen sollten, so überhaupt stattfinden, ist fraglich. Jelzin möchte sie von November auf nächstes Jahr verschieben. Doch wer bei den russischen Wahlen im Dezember erfolgreich sein will, muß eine Lösung des Tschetscheniendilemmas anbieten. Die Zeit drängt. Nicht von ungefähr feiern Dudajews Sympathisanten die militärische Niederlage wie einen Sieg. Klaus-Helge Donath

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