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Zeitlupenblicke werfen...

...auf die sogenannten Dinge. Zwei Bücher mit bisher unveröffentlichten Feuilletons von Franz Hessel aus Paris und aus dem Berlin der dreißiger Jahre  ■ Von Jörg Plath

„Und dann wollte sie heim. Heim – das heißt ins Hôtel. Da war gerade noch Zeit, ein wenig Toilette zu machen und das letzte in Koffer und Tasche zu tun. Und dabei bekam ich noch allerlei geschenkt. Schönes, Nutzloses, ,Dinge keines Gebrauches‘, wie der Dichter sagt, Amulette...“

Das Schiff nach Amerika, das die Freundin aus dem Pariser Exil retten wird, liegt schon unter Dampf. Doch ihren Begleiter läßt der Schriftsteller Franz Hessel, ungeachtet seiner Vertreibung aus Deutschland, tun, was seine Figuren immer getan haben: die Schönheit nutzloser Gegenstände beschwören.

1939 erschien das Feuilleton „Hier tanzt man noch“ im Pariser Tageblatt. Das ist eine kleine Sensation, denn bisher ging man davon aus, daß Hessel nach 1934 nicht mehr publiziert hat. Geschützt von seinem Verleger Ernst Rowohlt, arbeitet er weiter als Lektor und Übersetzer, obwohl die Reichsschrifttumskammer Juden die Arbeit in Verlagen untersagt hatte. Erst 1938, wenige Tage vor der „Reichspogromnacht“, konnte ihn seine Frau Helen zur Flucht nach Paris überreden. Nach dem deutschen Angriff auf Frankreich wurde er als feindlicher Deutscher interniert. Seine Frau befreite ihn aus dem Lager, doch am 4. Januar 1941 starb Hessel in Südfrankreich an den Strapazen.

Nun warten gleich zwei Bücher mit bisher unveröffentlichten Texten aus der Weimarer Republik und dem Pariser Exil auf – bemerkenswert für den erst in den 80er Jahren wiederentdeckten Flaneur von Berlin und Paris. Hartmut Vollmer hat im Paderborner Igel Verlag unter dem Titel „Von den Irrtümern der Liebenden“ die gleichnamige Novellensammlung von 1922 wieder vorgelegt und um kurze Prosa aus den Jahren 1921–1939 ergänzt. Im Deutschen Taschenbuchverlag hat Bernhard Echte „Berliner und Pariser Skizzen“ zusammengestellt. Leider gibt es bei den Texten einige Überschneidungen. Unklare Verträge sollen der Grund dieser mißlichen Doppelung gewesen sein.

1888 zogen die jüdischen Eltern mit dem achtjährigen Franz von Stettin nach Berlin. Versehen mit dem Erbe des früh verstorbenen Vaters, ging er als 20jähriger nach München – zum Studium, hieß es offiziell, „gärenshalber“, wußte ein Teilnehmer des Schwabinger Stefan-George-Kreises, an dessen antikischen Festen Hessel schon bald mit Toga und Sandälchen teilnimmt. Ludwig Klages gehört ebenso zu den Bacchanten wie der bewunderte Karl Wolfskehl und Franziska Gräfin zu Reventlow.

Vor dieser mütterlichen Hetäre flieht Hessel 1906 nach Paris. Henri Pierre Roché wird der Freund seines Lebens; er führt ihn in die internationale Künstleravantgarde ein und macht ihn bekannt mit Pablo Picasso, Marie Laurencin, Gertrude Stein u.a. 1913 heiratet Hessel die Malerin Helen Grund, und in den 20er Jahren entwickelt sich zwischen dem Ehepaar und Roché eine leidenschaftliche und leidvolle Dreiecksgeschichte, die durch François Truffauts Film „Jules und Jim“ berühmt geworden ist.

Der Erste Weltkrieg vertreibt den Deutschen aus dem ästhetizistischen, ausschließlich der Kunst und dem Genuß des Augenblicks gewidmeten Dasein in der Pariser Bohème. Weil in der Inflation Anfang der 20er Jahre das väterliche Vermögen zerrinnt, ist Hessel zur verhaßten bürgerlichen Erwerbsarbeit gezwungen. Er wird Lektor, Herausgeber und Übersetzer im Ernst Rowohlt Verlag und beginnt zu publizieren.

Das Scheitern der Jugendhoffnung, ein Leben als Kunst abseits der bürgerlichen Gesellschaft zu führen, reflektiert Hessel 1922 in „Von den Irrtümern der Liebenden“. In dem zwischen Parfum und Ironie changierenden Novellenreigen fügt sich eine kleine Berliner Nachkriegsbohème melancholisch dem aufgezwungenen bürgerlichen Lebenswandel: nun heiße es „glücklich sein, wie es sich gehört“.

Diese ironisch gebrochene Zustimmung scheint auch Hessel gepflegt zu haben. Hartmut Vollmers chronologisch angeordnete Auswahl, die mit „Von den Irrtümern der Liebenden“ beginnt, präsentiert die ganze thematische und stilistische Vielfalt eines Schriftstellers, der nach anfänglicher Distanz die Möglichkeiten des Literaturbetriebs intensiv nutzt. Hessel schreibt eine große Zahl von Feuilletons und verwertet sie meist mehrmals in den verschiedensten Zeitungen und Zeitschriften, bevor ein kleinerer Teil schließlich in Sammelbände aufgenommen wird.

Deren Titel – „Nachfeier“ oder „Ermunterungen zum Genuß“ (1933!) – stehen für ein unzeitgemäßes Programm. Gegen die allgemeine Begeisterung der 20er Jahre für Technik und Tempo protestiert Hessel, indem er seinen Flaneur „langsam durch belebte Straßen“ gehen und „Zeitlupenblicke“ werfen läßt. Seine Stadtbilder atmen mit ihrem verblüffenden Detailreichtum die Atmosphäre des Augenblicks. Doch darunter scheinen Vergangenheiten auf und schieben sich traumscharf wie Bilder übereinander. Hessels Flaneure rekonstruieren in einem kindlichen „Aug' in Aug' mit den sogenannten Dingen“ die zersprungene Totalität der Welt. Im Sichtbaren entdecken sie das Unsichtbare, im Alltag den Mythos und in der Gegenwart die Vorgeschichte.

Wie sehr eine solche Wahrnehmung einer innigen Vertrautheit mit der geliebten Stadt entspringt, zeigen die von Bernhard Echte ausgewählten Paris-Feuilletons. Denn obwohl Hessel immer wieder nach Paris fährt, um seine Frau und die zwei Söhne zu besuchen oder um mit seinem Freund Walter Benjamin Marcel Proust zu übersetzen, liest sich die kurze Prosa aus der französischen Metropole teilweise arg papieren. Oft projiziert Hessel lediglich die in Bibliotheken angelesene Weltgeschichte auf städtische Orte.

Mit diesen Schwächen versöhnt Echtes Taschenbuch durch ein gut lesbares Nachwort, vor allem aber durch den Abdruck von immerhin zwölf der vierzehn 1938/39 im Pariser Tageblatt erschienenen Texte. Meist handelt es sich um Überarbeitungen älterer Feuilletons, publiziert unter dem Pseudonym Hesekiel, dem nach Babylon verbannten israelischen Propheten. Ganze drei dieser Exilveröffentlichungen präsentiert dagegen Hartmut Vollmer. Dahinter stehen unterschiedliche Editionsprinzipien: während sich Vollmer – philologisch korrekt und zugleich völlig unverständlich – jeweils für die früheste Fassung und damit meist für Texte aus der Weimarer Republik entscheidet, wählt Echte die Exilfassungen – ärgerlicherweise, ohne deutlich darauf hinzuweisen.

Daß die Frage nach den Textvarianten nicht nur für Spezialisten interessant ist, zeigt das Feuilleton „Pause in Paris“, das 1930 erstmals erschien. In der Fassung von 1939 spricht Hessel so unverhüllt wie kein zweites Mal von der Einsamkeit und Verzweiflung des Pariser Exils. Sehnsüchtig werden die Angebote im Schaufenster eines Reisebüros betrachtet, bis sich die Augenreise dem Deutschen Reich nähert: „...mit der holden Maid, die uns aus dem ,Weindorf Koblenz‘ Prosit zuruft, sind wir zur Zeit leider ,schuß‘, wie die Berliner Kinder sagen. Und mit einemmal wird uns die ganze Geographie aus seliger Ferienfahrt wieder zum bitteren Auswanderungsproblem. Das wollen wir aber eine Weile vergessen und ganz genießen die schöne Pause in Paris.“

So befremdlich Hessels stoische Haltung angesichts der Nationalsozialisten auch wirken mag, getäuscht hat er sich nicht über die Gefahr. Nur kennt seine Erkenntnis keinen Imperativ des Handelns. Darin blieb er Zeit seines Lebens Flaneur.

Franz Hessel: „Von den Irrtümern der Liebenden und andere Prosa“. Mit einer Biographie von Gregor Ackermann und Hartmut Vollmer (Hg.), Igel Verlag, Paderborn 1994, 198 Seiten, geb., 42,80 DM; ders. „Ein Garten voll Weltgeschichte. Berliner und Pariser Skizzen“, hg. von Bernhard Echte, dtv, München 1994, 19,90 DM.

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