: Die Vertreibung kostet 100 Mark
■ Das letzte Kapitel der "ethnischen Säuberung" hat begonnen: Tausende Kroaten und Muslime müssen Serbien und Serbisch-Bosnien verlassen. In Ex-Jugoslawien gibt es jetzt über drei Millionen Flüchtlinge
Zagreb (dpa/afp/taz) – Trotz aller Bemühungen um eine politische Lösung des Konflikts im früheren Jugoslawien setzen die bosnischen Serben die Vertreibung aus der Region um Banja Luka fort. Tausende von Kroaten und Muslimen mußten ihre Häuser auf Druck von geflüchteten Krajina- Serben verlassen. Mit Bussen und Booten werden sie nach Kroatien transportiert. Nach Angaben der kroatischen Polizei überqueren stündlich 200 Menschen den bosnisch-kroatischen Grenzfluß Save.
Der Sprecher des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) in Genf, Ron Redmond, nannte die Vertreibungen aus Banja Luka „das letzte Kapitel in einer langen Geschichte trauriger und brutaler ethnischer Säuberungen“. Nach UNHCR-Angaben lebten zuletzt noch 12.000 Kroaten und 45.000 Muslime in der Region. Seit Jahresbeginn sind nach UN-Angaben bereits 5.000 Kroaten vertrieben worden. Vor Ausbruch des Krieges 1991 lebten rund eine halbe Million Muslime und Kroaten in diesem Gebiet.
Kroatische und muslimische Vertriebene, die bereits zu Beginn der Woche nach Kroatien gelangt waren, berichteten, sie seien von bewaffneten Männern bedroht worden. Die Serben hätten ihnen „als letzte Demütigung“ 100 Mark für das Übersetzen über die Save abgenommen. Ein Mitglied der bosnisch-serbischen Führung, Nikola Koljević, räumte ein, daß Zivilisten in der Region Banja Luka von Serben mißhandelt worden seien. Das UNHCR berichtete, Vertreter der Vereinten Nationen in Banja Luka seien von Kroaten und Muslimen angefleht worden, sie aus der Stadt herauszubringen. Täglich fänden die Menschen Drohbriefe vor ihren Haustüren. UN-Sprecher Janowski bezeichnete die Vertreibung als „logistisch gut vorbereitet“. Es sei damit zu rechnen, daß alle Angehörigen von Minderheiten in den kommenden Wochen vertrieben werden.
Nach Angaben des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) wurden Flüchtlinge im wehrfähigen Alter von den bosnischen Serben seit Montag mittag am Grenzfluß Save festgehalten oder zu Zwangsarbeiten an die Front gebracht.
Auch Tausende von Serben aus der Krajina sind weiter auf der Flucht. An der Grenze zu Serbien gibt es immer noch kilometerlange Schlangen. Von den rund 150.000 geflohenen Serben befinden sich nun 20.000 in der Region um Banja Luka, 120.000 sind bislang in Serbien eingetroffen.
Die serbischen Behörden wollen bis zu 16.000 Flüchtlinge in der Provinz Kosovo, im Süden Serbiens, ansiedeln. Dort leben rund 1,8 Millionen Albaner, die gegen diese Pläne scharf protestiert haben. 800 serbische Flüchtlinge, die in den Kosovo gebracht werden sollen, haben sich gestern geweigert, in den Zug einzusteigen. Der unabhängige Belgrader Radiosender B-92 berichtete, die Menschen würden ohne Wasser und Nahrungsmittel von den serbischen Behörden auf dem Bahnhof von Kudasak festgehalten. Die örtliche Bevölkerung werde daran gehindert, ihnen Hilfsmittel zu bringen.
Kritisiert wird auch der serbische Plan, 24.000 serbische Flüchtlinge in der nördlichen Provinz Vojvodina anzusiedeln. Vertreter der ungarischen Minderheit der Region warnten vor einer „Veränderung der ethnischen Struktur“. Nach Angaben des Roten Kreuzes sind 30.000 Kroaten in der Vojvodina von der Vertreibung bedroht. Von den Massenvertreibungen in Ex-Jugoslawien sind nach Angaben des UNHCR bis Juli 1995 rund 3.175.000 Menschen betroffen. Hinzu rechnen muß man nun noch die 150.000 Krajina-Serben sowie die 42.000 Kroaten und Muslime aus Nordbosnien.
Der US-Diplomat Richard Holbrooke hat gestern seine Gesprächsserie in der kroatischen Hauptstadt Zagreb fortgesetzt. In Genf haben offensichtlich Vertreter der bosnischen Serben Geheimkontakte mit den internationalen Jugoslawien-Vermittlern, Carl Bildt und Thorvald Stoltenberg, aufgenommen. Eine Sprecherin von Bildt und Stoltenberg wollte das Treffen nicht bestätigen.
Die kroatische Armee hat in den vergangenen Tagen rund 3.000 Elitesoldaten in die Region um Dubrovnik verlegt. Ein UN-Sprecher in Zagreb sagte, eine kroatische Offensive könne „in den nächsten Tagen beginnen“. Ziel der Offensive könnten die serbischen Artilleriestellungen im Hinterland von Dubrovnik sein. Von dort aus war die Region um Dubrovnik in den vergangenen Tagen wiederholt beschossen worden. In Westbosnien nahmen kroatische Verbände die Stadt Drvar unter Beschuß. Nach Angaben aus Belgrad befürchten bosnisch-serbische Militärs, daß die Stadt von den kroatischen Verbänden erobert wird. g.b.
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