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„Endlich selbständig“

■ Wohntraining für geistig Behinderte / Lebenshilfe-Projekt seit 15 Jahren

Marcus Giehl kann es kaum erwarten. „Mitte September ist es endlich soweit“, freut sich der 22jährige und deutet auf ein Kalenderblatt an seiner Pinnwand. „Dann ziehe ich aus und stehe auf eigenen Füßen.“ Auf diesen Schritt hat er sich gut vorbereitet: Seit knapp einem Jahr lebt er in dem umgebauten Schulgebäude in der Vegesacker Heerstraße, der Lebenshilfe-Einrichtung „Wohntraining für Menschen mit geistiger Behinderung“. Auch Heidi Wilkens ist „schon ganz aufgeregt“. Nach zwei Jahren Wohntraining hat sie sich im Februar bei der Wohnungsgesellschaft gemeldet. Gestern ist das erste Angebot gekommen. „Jetzt muß ich sehen, ob mir die Wohnung gefällt“, sagt die 29jährige.

40 geistig behinderte Menschen hat die Einrichtung in den letzten 15 Jahren im „Wohntraining“ auf ein selbständiges Leben vorbereitet. Dazu gehört vom Abwasch bis hin zum Behördengang „alles, was das täglichen Leben ausmacht“, umreißt Harald Brandt, Sozialpädagoge und Hausleiter, das Konzept.

Derzeit leben 13 Menschen im Alter von 20 bis 38 Jahren in der Einrichtung. Sie nennen jeweils ein kleines Zimmer mit Bad ihr eigen – das erste eigene kleine Reich zum Üben. Die meisten haben vorher bei den Eltern gewohnt. So wie Marcus, der „unbedingt selbständig werden wollte“, um ein eigenes Leben zu führen. Die Betreuer helfen ihm und den anderen Bewohnern dabei.

Sie zeigen ihnen, wie man putzt, kocht, wäscht, mit Geld haushaltet, die Freizeit gestaltet und eine Wohnung findet. „Alles Bereiche, die geistig behinderten Menschen traditionell von den Eltern abgenommen werden“, sagt Harald Brandt. „Dabei wollen viele lieber alleine leben und selbständig sein.“

Entsprechend groß ist der Andrang – die Plätze fürs Wohntraining sind rar und die Warteliste ist lang. „Zum Teil mußten die Leute 1 1/2 bis 2 Jahre warten“, räumt Brandt ein. „Im Frühjahr wird das besser, dann sind wieder Plätze frei“, verspricht er.

Marcus hatte ungewöhnliches Glück. „Im August bin ich gekommen, im September konnte ich einziehen“, erzählt er. Seitdem hat er jede Menge gelernt: „Ich kann jetzt kochen. Nudelauflauf mag ich am liebsten.“ Auch das Haushalten fällt ihm leichter. „Zuerst kauft man mit den anderen ein und kocht zusammen. Nach einer Weile wurde ich Selbstversorger und mußte mit 77 Mark eine Woche auskommen. Das übt“, schmunzelt er. Seine größte Leistung? „Ich kann jetzt alleine ins Kino gehen. Das habe ich vorher nicht gekonnt. Darauf bin ich stolz“, strahlt Marcus. „Schon nach einem halben Jahr war ich so selbständig, daß ich raus wollte.“

Erfahrungsgemäß dauert das länger: „Je nach Art der geistigen Behinderung zwischen ein und drei Jahren“, hat Harald Brandt beobachtet. „Wir setzen allerdings kein Zeitlimit. Wenn jemand sich nach drei Jahren immer noch nicht in der Lage fühlt, alleine zu leben, kann er selbstverständlich länger bleiben“, betont er. Außerdem gibt es die Möglichkeit, in die Wohngemeinschaften oder Wohngruppen der Lebenshilfe zu ziehen, in denen die Bewohner zum Teil rund um die Uhr betreut werden.

Marcus hat zwar noch nicht gepackt, aber er hat mit seinen Betreuern schon allerhand für sein neues Heim gekauft: „Ein Bett und Schrank aus Kiefer, rote und schwarze Lampen, ein blaues Telefon“, zählt er auf. „Jetzt fehlt mir nur noch Bettwäsche und Geschirr. Den Rest hab' ich.“ Davor, daß er sich nach dem Auszug einsam fühlen könnte, hat er keine Angst. Wenn er möchte, betreut ihn die Lebenshilfe weiter. „Auf Wunsch kommen wir vorbei und helfen, den Tagesablauf zu organisieren“, erklärt Rosi Rubick, die bei der Lebenshilfe für den externen Bereich zuständig ist. „Das ist auch ganz schön“, sagt Marcus. „Aber erstmal bin ich ehrlich gesagt froh, daß ich meine Ruhe habe.“

kes

Wohntraining der Lebenshilfe, Vegesacker Heerstraße 151, Tel.: 625 03 03. Tag der offenen Tür: Samstag, 19.8. von 14 bis 18 Uhr.

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