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Männerdämmerung

Gute Sänger, schwache Spieler, schwarze Bühnen: „Der Ring des Nibelungen“, ein Ritual in Bayreuth  ■ Von Sabine Zurmühl

Sie hat ihren kleinen Teddy als Wotan verkleidet, mit Lurex-Umhang, Augenklappe und einem winzigen Speer. Sie sucht noch eine Karte für den „Ring“ und steht dort, wo die, die schon Karten haben, zum Festspielhaus drängen. Der kleine Wotan hat ihr Glück gebracht. Vier Abende hat die Zwanzigjährige auf der Galerie gesessen. Sie hat voller Begeisterung in das Nachklingen des letzten Tones, in diesen so schönen und ausatmenden Moment ihre Bravos gebrüllt, bis ihr die daneben sitzende Altwagnerianerin geraten hat, doch immer erst mal bis 20 zu zählen. Macht sie jetzt.

Bayreuth mag ein Treffen der Eliten sein, es ist auch ein Treffen der Liebenden, der Musikverrückten, der über ganze Leben mit dem Wagner-Werk Beschäftigten. Darin, auch darin, ist die Idee Wagners von den demokratischen Festspielen und der Bratwurst in der Pause aufgegangen. Die Pausen sind jeweils eine Stunde lang. Es ist Sommer, und das Festspielhaus liegt im Grünen. Unangestrengt. Die Galerieplätze kosten 39 Mark und die Hörplätze 8. Nach Bayreuth zu fahren, ist eine Sache des Interesses, der fixen Idee meinetwegen, der immer neuen Auseinandersetzung. Auch eine Frage des Wartenkönnens, der beharrlichen Geduld. Sechs Jahre dauert es im Schnitt, bis die ersten Karten kommen.

Nur fehlte es dem diesjährigen Festspielangebot an Überraschendem, Verheißungsvollem. Letztes Jahr war der „Ring“ von Alfred Kirchner neu inszeniert worden, mit Bühnenbildern und Kostümen von Rosalie, übrigens der ersten Frau an dieser Stelle. In diesem Sommer langt es noch immer zu den herzhaftesten Buhs, die die beiden sich mit bewundernswertem Masochismus jeden Abend abholen, in die sich aber bereits eine kräftige Stimme des Beifalls und der Akzeptanz mischt. Im nächsten Jahr wird sich dieses Verhältnis noch weiter verschoben haben, und im übernächsten schwärmen dann alle von ihrem Wotanssegel in Königsblau, von den schwarz-roten Walküren-Kostümen in dieser Mischung aus Reifrock und Bauhaus-Figurine. Sie werden die frühlingsknatschgrünen Schirme genießen, die Siegfrieds Waldweben überspannen, und den Rachen des Lindwurms, der aus einem Berg herausklappt mit zwei Krokodilsaugen, darin der Riese Fafner mit seinem schwarz-gelben Kopfschild wie ein Südsee-Insulaner.

In den oft gespreizten, mit Reifen und Stangen arbeitenden Kostümen, in denen die Nornen wie große Würmer den Boden abtasten oder Frickas linke Körperhälfte fesselartig umschlungen ist, zeigt sich eine neuerliche Betonung der „Ring“-Figuren in ihrer mythologischen Sphäre, wie sie die vorigen Interpretationen, etwa von Chéreau und Kupfer, gerade vermieden hatten.

So oft wurde betont, wie menschlich die Götter sind, daß nun die Gegenentdeckung einsetzt: Sie sind auch Archetypen, zeitüberspannend, in einer Welt der unaufschiebbaren Konflikte auf Leben und Tod, ohne den Ausweg des Verdrängens. Kirchner setzt dabei auf eine fast statuarische Bewegungsarmut, auf ein Festsaugen an der Spannungsachse zwischen zwei Menschen: Immer wieder der Dialog, so häufig wie bei keinem anderen Komponisten, endlos, mühsam, wunderbar – wenn die Sänger-Schauspieler diese Spannung herstellen können, wie Deborah Polaski als Brünnhilde ganz mühelos oder John Tomlinson als Wotan, dann geht dieses Konzept auf, wenn gute Sänger schwache Spieler sind, wie Wolfgang Schmidt als Siegfried, dann entsteht Vakuum, Leere.

Und vom Orchester unter James Levine ist in diesem Punkt keine Unterstützung zu erwarten: Levines Stärke liegt in der bis zum fast Unerträglichen gedehnten, verlangsamenden Interpretation, die fast kammermusikalisch, ziseliert, süß und ziehend sein kann, mit atmenden, nie gehörten Pausen, in denen 2.000 Menschen mucksmäuschenstill auf den lösenden Folgeakkord warten.

Kommen nun zwei solche Langsamkeitsapostel zusammen, so ist leicht zu denken, wie labil dieses Gleichgewicht zwischen Hochspannung und Ausfall ist, wie sich Statuarik der Figuren und Dehnung der Musik gegenseitig entkräften können. Also bleiben Momente der Trauer und der Aggression, der großen Zuneigung und Abstoßung doch auch auf der Strecke.

Nicht zufällig gerät Kirchner damit auch an eine der letzten Bastionen der Nibelungen-Männlichkeit: die Siegfried-Figur. Bislang hatte die Männerdämmerung zumindest vor ihm noch halt gemacht, vor dieser Jungen-Figur, die Wagner so wichtig war, daß er überhaupt die gesamte „Ring“-Idee mit ihren vier Abenden daraus entwickelte, und die wie kaum eine andere die Quintessenz unserer Männer-Kultur ist, immer noch: der Knabe, der Knabe, das Versprechen für alles, was gut werden kann, ein Erziehungstraum, um den sich alle sorgen, der Förderung, Aufklärung und Prüfung durchläuft und schließlich durch ein trauriges Mißgeschick, durch ein Schicksals- Mißverständnis, zu Tode kommt. Kirchner gibt diesem Sieger-Menschen, dieser blonden Durchsetzungsmaschine, einige zaghaftere, unentschiedenere Züge. Dieser Siegfried ist nicht mehr nur die heitere Katastrophe, die leider für die anderen immer schlecht ausgeht, ob Ziehvater und Zwerg Mime, ob Riese Fafner, ob schließlich die betrogene Göttertochter Brünnhilde, die er überwältigt und schließlich in Gunters Gestalt ein zweites Mal vergewaltigt.

Im „Ring“ gibt es eine Fülle von Konflikten, die heute zum Leben gehören und uns entsprechend packen können, wenn es um Liebesanspruch und Macht geht, um die Unfähigkeit zum Glück, um notwendige Übertretung von Geboten oder die Begegnung mit dem Tod, wie sie etwa in Brünnhildes Todesverkündigung sich zeigt. Deshalb sitzen die Leute in diesem Festspielhaus, deshalb lesen sie jahrzehntelang die Texte, deshalb sind so viele Junge da, die mitleiden, auf die Anrührung der Musik hoffen. Das ist der heimliche oder gar nicht so heimliche Erfolg Bayreuths, der schwerer zu benennen ist oder in unseren aufgeklärten zynischen Zeiten peinlicher, weil Schwäche und Bedürftigkeit eingestehend. Und Wagner zeigt ja gerade im „Ring“ keine Lebenslösungen, er zeigt die verzweifelte Suche danach.

Wie wird es weitergehen in Bayreuth? Der Festspielleiter und Regisseur Wolfgang Wagner ist ein Enkel des Meisters, aber inzwischen ein alter Enkel, und die Nachfolge-Debatte ist eröffnet. Vielleicht erheben nicht alle zwölf Urenkel, wie von Wolfgang manches Mal beschworen, usurpatorisch Ansprüche auf das Erbe, aber einige sind es doch, die legitimerweise sich selbst ins Spiel bringen. Hatte Wolfgang Wagner noch gemeinsam mit Bruder Wieland, gewissermaßen als Doppel- Siegfried, einträchtig die Festspiele nach dem Krieg übernommen, wobei beispielsweise die Schwester Friedelind wohl auch aus politischen – sie war ihnen zu links –, sicher aber auch aus männerfreundlichen Gründen schon gar nicht in Betracht kam, melden sich jetzt zumindest drei publizistisch zu Wort: die Wolfgang-Tochter Eva, ihres Zeichens Opernmanagerin, ihr Bruder Gottfried, Wagner-Regisseur mit Bayreuth-Hausverbot, sowie Nike Wagner, Wieland-Tochter und Kulturwissenschaftlerin. Dabei gibt sich Eva Wagner in der neutralen Gestalt der Professionellen, Nike mit der Kompetenz und Arroganz der „eigentlichen“ (nämlich der Wieland-Familie) und Sohn Gottfried wohl am avanciertesten aus dem Clan mit seinem Angriff auf die Hitlerei der Großmutter Winifred.

Schade, daß der Prinzipal Wolfgang überall nur KönigsmörderInnen entdeckt, die man immerfort ignorieren oder wegbeißen muß, Kinder, vor denen man sich fürchtet. Tragisch, daß sein reiches und erfolgreiches Leben im Dienst Bayreuths ihm wohl keine Souveränität einbrachte.

Bleibt das großartige traurige Bild, daß Wotans Speer durch Siegfried zerschlagen wird – ohne Sieg geht es nicht? Und ohne Niederlage?

„Der Ring des Nibelungen“. Regie: Alfred Kirchner, mit Brigitta Svendén, John Tomlinson, Deborah Polaski u.a.

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