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Die Lust am weltweiten Computerverbund „Internet“ und die Netzrealität in Deutschland: Reflexionen aus Anlaß eines Schildbürgerstreichs der Magdeburger Telekom  ■ Von Mike Sandbothe

Im „Internet“ sind derzeit 35 bis 40 Millionen Menschen aus aller Welt über Hochgeschwindigkeitsnetze und Telefonleitungen miteinander vernetzt. Die Wachstumsraten sind exponentiell. Das Jahr 1995 wird in die deutsche Mediengeschichte als Jahr der digitalen Medienrevolution eingehen.

Zu Beginn des Jahres verabschieden Europas Chefpolitiker auf der G-7-Konferenz acht Grundprinzipien für den Übergang in die interaktive Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts. Zu ihnen gehört die Bereitstellung von freiem und kostengünstigem Internet-Zugang für alle Bürgerinnen und Bürger Europas. Der deutsche Bundeskanzler ruft kurz darauf die Spitzen von Wirtschaft, Wissenschaft und Politik zum ersten Treffen des neugegründeten „Rates für Forschung, Technologie und Innovation“ zusammen. Der Verein zur Förderung eines deutschen Forschungsnetzes (DFN-Verein) erhält 80 Millionen Mark für den Aufbau eines neuen, leistungsstarken ATM- Breitband-Wissenschaftsnetzes. Bei der Telekom entsteht aus dem geschlossenen System „Datex-J“ die internetoffene „Telekom-Online“. Sie wird Ende dieses Monats auf der Internationalen Funkausstellung in Berlin vorgestellt.

Auch inhaltlich tut sich auf dem Netz viel in Deutschland. Das Land Bayern investiert 100 Millionen Mark für das Internet-Projekt „Bayern-Online“ und bringt die bayerische Wirtschaft, Politik und Wissenschaft in einer konzertierten Aktion aufs Netz. Die „Bundesdatenautobahn“ soll ähnliches für Deutschland insgesamt leisten. In Nordrhein-Westfalen werden die Unis an das digitale Literaturliefersystem JASON (Journal Articles Sent on Demand) angeschlossen. Die Kunst-, Kultur- und Popszene führt vor, wie man das Netz den Menschen nahebringt. Im Berliner „Haus der Kulturen der Welt“ stehen die Besucher im Internet-Café Schlange, um kostenlos im Kulturnetz zu surfen. Angesichts solcher Entwicklungen geraten auch die Medien in den Taumel des Bit-Bang. Newsweek, Times, Spiegel und Focus präsentieren immer neue Themenhefte. Die sind selbstverständlich in Hypertextversion auch online zu haben. Die Digi-taz allemal. Und die Rolling Stones eröffnen ihre Voodoo Lounge Tour live on the net. Europa erwacht. Amerika lacht. Es geht voran?

Magdeburg grüßt den Rest der Internet-Welt

Die Geschichte ließe sich auch anders schreiben. Das mag ein Blick in den Netzalltag der medienbekannten Landeshauptstadt Sachsen-Anhalts belegen. Der einzige lokale Internet-Knotenpunkt von Magdeburg ist das Rechenzentrum der 1993 neu gegründeten Otto- von-Guericke-Universität. Ihr Campus ist seit ein paar Wochen mit der Welt vernetzt. Zwar hat man bei der Vernetzung die Fakultät für Geistes-, Sozial- und Erziehungswissenschaften vergessen. Aber solche Details sind reparabel. Ab 1997 können voraussichtlich in Magdeburg auch die Geistes-, Sozial und Erziehungswissenschaftler ihre Erfahrungen auf dem Internet machen. Dann werden zwar schon wichtige medienpolitische Entscheidungen der Landesregierung gefallen sein, die soziale, gesellschaftliche, politische und ethische Fragen der Gestaltung des Netzes betreffen. Aber für die systematische Ausbildung von kreativen Kooperationsverhältnissen zwischen Politik und Wissenschaft hat die krisengeschüttelte Regierung in Sachsen- Anhalt ohnehin noch keine Atempause gehabt.

Auch außerhalb der Universität tut sich was in der Magdeburger Netzlandschaft. Seit Bildungsminister Rüttgers mit einer eigenen Seite und einem hübschen Foto im Internet ist, sind die Politiker wach geworden. Dabei hat die örtliche Netzszene fleißig mitgeholfen. Seit 1990 gibt es in Magdeburg eine lokale Interessengemeinschaft von Netznutzern: die „Boerde.de.“. „de“ steht für Deutschland. Das ist die übliche Abkürzung für deutsche Internet-Adressen. Es handelt sich also nicht um eine rechte Mailbox oder einen nationalistischen Fascho-Server. Die „Boerde.de“ ist eine harmlose Internet- Gemeinde mit Virtual-community-Appeal. Zwei ihrer Mitbegründer, Jens Münster und Jens Enders, bieten unter dem Namen „MD Link“ kommerziellen Zugang zum Netz an. Ihre Kunden sind Ministerien, Ämter, gesellschaftliche Institutionen und lokale Wirtschaftsunternehmen. Die wählen sich über ISDN-Leitungen der Telekom in den MD-Link-Server ein, der seinerseits über Telekom mit einem Internet-Knotenpunkt in Karlsruhe verbunden ist.

Die Telekom – das ist ein eigenes Thema in Magdeburg. Durchwahlnummern zu den Sachbearbeitern sind in der Elbestadt Geheimsache. Die Magdeburger Internet-Gemeinde kann von den Hinhaltetaktiken des Monopolisten ein trauriges Lied singen. ISDN-Aufträge verschwinden nach Einsendung häufig auf mysteriöse Weise im Dschungel der diversen Telekom-Abteilungen. Das Ergebnis sind wahre Schildbürgerstreiche. So hatten Münster und Enders bereits im Dezember 1994 schriftlich einen Auftrag an die Telekom für weitere ISDN-Leitungen vergeben. Für Internet-Anbieter ist es wichtig, daß sie den Kunden mehrere ISDN-Leitungen zur Einwahl anbieten können, um unnötige Wartezeiten zu vermeiden. Das ist wie beim Telefonieren. Die Rückmeldung der Telekom war negativ: Alle in Frage kommenden Leitungen seien vergeben.

Die MD-Link-Leute unternahmen Recherchen auf eigene Faust. Ihr Nachbar, die Magdeburger Chemieanlagenbau GmbH, teilte ihnen im Mai mit, daß sie soeben vier Leitungen abgemeldet habe. Nach zahllosen Anrufen von MD Link bei der Telekom lautete das kafkaeske Zwischenresultat im

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August: Das Abmeldungsschreiben der Firma Chemieanlagenbau sei im Hause Telekom nicht mehr aufzufinden. Und überhaupt sei vor Oktober nichts zu machen.

Was folgt daraus für Magdeburg? Derzeit teilen sich die kommerziellen und privaten Nutzer sowie die Beamten der Ministerien und des Landeskriminalamtes, die von ihrem Arbeitsplatz aus das Internet einsetzen, eine einzige ISDN-Leitung zur Einwahl in den MD-Link-Rechner, durch den die Verbindung zum Internet hergestellt wird. Die Leitung kann nur von maximal zwei Anwendern gleichzeitig genutzt werden. Damit wird der Einstieg ins Internet zum nervenzermürbenden Glücksspiel. Man muß sich das auf der Zunge zergehen lassen: Politik, Wirtschaft und (Teilen der) Wissenschaft steht in der Landeshauptstadt von Sachsen-Anhalt zur Einwahl in das Internet derzeit eine einzige ISDN-Leitung zur Verfügung! Das klingt wie ein schlechter Witz, ist aber deutsche Realität.

Aber nicht nur in Sachsen-Anhalt gibt es zukünftig viel zu tun in Sachen Internet. Die Netzrealität bleibt bundesweit hinter der europäischen G-7-Vision zurück. Der Zustand des Back-bone-Netzes in Deutschland, also die Einbindung in das weltweite Hochgeschwindigkeitskabelsystem, entlockt US- Fachleuten nur ein müdes Lächeln. Aber auch im europäischen Vergleich hat Deutschland die Nase hinten. Das bekamen die deutschen Rolling-Stones-Fans, die sich die Bilder von der Voodoo Lounge Tour anschauen wollten, zu spüren. Während das Konzert aus Dallas (Texas) in England gestochen scharf auf den PC-Monitoren zu sehen war, waren die Leitungen in Deutschland überfordert. Die Fans mußten auf die Bilder von Mick Jagger verzichten.

Telekom-Online-User oftmals abgehängt

Auch die Telekom-Online-Nutzer sind vom echten Surf-Vergnügen auf dem Netz noch weit entfernt. Zwar können sie sich im World Wibe Web – der populären graphischen Anwenderoberfläche des Internet – mit der von der Telekom mitgelieferten Software „Netscape“ umschauen. Aber die Fähigkeit, mit Methode im Netz zu „browsen“, also sich mit Mausklicks gezielt durch das Hypertextgefüge des Netzes zu bewegen, will erst erlernt sein. Das Software-Paket und ein erläuterndes Handbuch reichen da nicht hin. Im Grunde bedürfte es der nutzernahen und persönlichen Einführung durch eigens ausgebildete Experten, die dem Kunden erklären, wie er Ordnung in die komplexe Datenvielfalt bringen kann. Ohne solche Hilfe droht dem unbelasteten Laien entweder der Absturz in das Info-Chaos oder die frühzeitige Resignation. Realistisch prognostiziert die Telekom daher, daß von den 840.000 potentiellen Datex-J-Kunden, die den Internet- Anschluß und Netscape bald kostenlos erhalten sollen, maximal 10 Prozent den Sprung auf das Surfbrett schaffen werden.

Aber auch diejenigen, denen es gelingt, auf den Informationswellen zu reiten, bleiben bei der Telekom bis auf weiteres in ihren Aktivitäten beschränkt. Zum weltweit üblichen Internet-Standard gehört die Möglichkeit, eigenständig multimediale Web-Seiten zu gestalten. Seine individuellen Web-Seiten kann der User mit Informationen über sich und seine Interessen anreichern. Er kann dort Statements, Fotos, Videos publizieren und anderen Gelegenheit geben, darauf zu reagieren. Die technischen Voraussetzungen für die Realisierung dieser kreativen Aspekte des World Wide Web werden vom Internet-Light der deutschen Telekom nicht erfüllt. Die Bereitstellung von nutzereigenem Festspeicherplatz auf den Telekom-Servern und die Ausrüstung mit den entsprechenden Editor-Programmen sind erst für die ferne Zukunft vorgesehen. Das aufklärerische und emanzipatorische Potential, das in den interaktiven Datennetzwerken enthalten ist, bleibt den Telekom-Online-Schützlingen verschlossen. Für kritische Geister buchstabiert sich World Wide Web (WWW) in Telekom-Deutsch weiterhin: Warten, Warten, Warten ...

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