: Die Früchte des Korns
Wie der BAP-Sänger Wolfgang Niedecken vor fünfzehn Jahren das zweite Mal nach Morlitzwinden in Franken kam und ein Lied schrieb, das niemand hören wollte: „Verdamp lang her“ ■ Von Wolfgang Jung
Das Blinklicht der Kasten-Ente taucht Morlitzwinden in Orange. 30 Stunden schon klemmt Wolfgang Niedecken hinter dem Steuer seines Citroän Accediane, auf den 1.800 Kilometern vom nordgriechischen Sarti hat der 29jährige nur zur Benzinaufnahme gehalten und stoppt nun vor Mitternacht des 20. August 1980 quietschend neben dem ersten Bauernhaus des mittelfränkischen Dorfes. Niedecken heißt seinen Hund Blondie auf dem Rücksitz zu bleiben und stolpert zur Haustür.
15 Jahre später kann sich Bäuerin Emma Geißendörfer gut an die ausgelaugte Figur im Türrahmen erinnern: „Ich hab' den schlank und hemdärmelig im Gedächtnis. Und wenn ich ihn so ansehe, hat er sich nicht verändert.“ Die heute 67jährige Ur-Morlitzwindenerin erzog nach dem Tod ihres Mannes Schorsch die einzige Tochter Erika, führte den Hof und vermietet seit 1976 Ferienzimmer: „Kehren Sie der Hektik des Alltags den Rücken.“
Eines Tages entdeckt die Krankengymnastin Carmen Humboldt, damalige Freundin, spätere Frau und heutige Ex-Frau Niedeckens, Emma Geißendörfers Annonce im Kölner Stadtanzeiger und benachrichtigt fünf Freundinnen, mit denen sie sich in Ruhe aufs Examen vorbereiten will. Am 13. August 1980 zieht das halbe Dutzend bei Geißendörfers ein. „Fünf Tage später standen zwei Burschen vor der Tür, die es partout nicht mehr ohne Freundin aushielten.“ Emma stellt Notliegen auf. „Wenn noch wer kommt, muß er im Stall schlafen“, schnauft die 15jährige Erika. In der Nacht darauf kommt Wolfgang Niedecken. Mit einer Flasche Retsina auf dem Beifahrersitz und Bob Dylan im Recorder war er aus Griechenland nach Franken geflohen, nachdem eine Wiener Zeitung Sarti als ultimativen Urlaubsort ausgemacht hatte. „Ruck, zuck war die Bucht voller Surfer.“
In Morlitzwinden stürzt das Leben nicht wie ein Bergbach zu Tal. Man trifft Milchkannen schwenkende Bäuerinnen in Nietenhosen und Pfeife rauchende Männer am Stock. Fünf Familien leben noch in dem Dorf, in dem es keine Telefonzelle gibt und keinen Friedhof. Im Osten führt gleich bei den Geißendörfers eine Schneise ins Korn. Hier, zum Gekreisch von Mauerseglern, spaziert Wolfgang mit Blondie am Rain entlang, während Freundin Carmen büffelt.
Sein Geld verdient Niedecken zu dieser Zeit mit Wasserdampf: Für die WDR-Sendung „Land und Leute“ pinselt der studierte Maler die Wolken der Wetterkarte. In Sarti hat er ein Lied begonnen, an dem er in Morlitzwinden feilt: „Fuhl (faul) am Strand“. Abends setzt er sich zum Komponieren mit der Gitarre unter die Zwetschgenbäume hinterm Haus. „Der verdient sich sein Geld doch mit Malen. Warum hört er nicht auf, wenn er nicht singen kann“, reklamiert Erika Geißendörfer. 1980 protestierten auch die Nachbarn noch, „was wir für einen Schreihals im Haus hätten. Amerikanisch oder Kölsch, man verstand kein Wort“, erinnert sich Emma. Am 27. August hat alle Not ein End' – „Die Ruhe, die Luft und alles drum herum, der Regen, die Sonne, das Bienengesumm, kurzum alles, was es hier gibt, haben wir 14 Tage geliebt“, dichten die jungen Leute ins Gästebuch und reisen ab. Das Examen sollen alle geschafft haben.
Am 25. Februar 1981 wackelt der Citroän mit Heckaufsatz erneut in Morlitzwinden ein. Carmen Humboldt, Wolfgang Niedecken und Blondie ziehen die fränkischen Schneeflocken den Kölner Konfettis vor – „Karnevalsflucht“, wie sie es nennen. Vor allem Niedecken steht nicht der Sinn nach kalendarischer Ausgelassenheit: Sein Vater ist gestorben.
Heinz Niedecken betrieb in der Kölner Südstadt einen Krämerladen. Im Jahre 1904 geboren, war er für den Kriegsdienst im Zweiten Weltkrieg zu alt, statt dessen patrouillierte er einmal wöchentlich mit der Hakenkreuz-Binde im Hafen. „Im nachhinein fand er die Nazis gar nicht so schlimm. ,Das mit den Juden‘ war alles, was er kritisierte“, erinnert sich Sohn Niedecken. Jahrelang schaukeln sich die Diskussionen zwischen dem Teenager und dem fast 50 Jahre älteren Vater hoch und enden stets mit Türenknallen. „In seinen letzten Jahren hatte er dann keine Kraft mehr zum Streiten“, erinnert sich Wolfgang Niedecken, heute 44. „Da hat er nur noch die Blumen im Garten unsicher gemacht.“
In Morlitzwinden klirrt der Februar-Frost. Jeden Morgen färbt das Postauto die Eisblumen gelb am Fenster der Ferienwohnung. Nicht die wuchtigen Möbel aus klarlackierter Ahornwurzel treiben Niedecken ins Freie, sondern „all die Dinge, die wir uns hätten sagen müssen“. Seine stundenlangen Schneewanderungen enden in benachbarten Dörfern. Durchgefroren sitzt er auf fränkischen Lehnstühlen und trinkt Bier in fremden Wohnzimmern. An Feldern entlang stampft er zurück, im Magen Gerste und im Block Notizen. Binnen fünf Tagen entsteht so „Verdamp lang her“.
„Ich führe da sechs Strophen lang ein fiktives Gespräch mit meinem Vater. Ein Gespräch über die Jahre von meiner Pubertät bis zu seinem Tod, in denen wir nicht mehr richtig miteinander gesprochen haben.“ Auch anderes bricht aus Niedecken heraus: seine Stellung in der Kölner Musikszene, Kritik an falschen Freunden, seine Orientierungslosigkeit. Am 2. März 1981 notieren Niedecken, Humboldt und Blondie ins Gästebuch „Weil's vorigen Sommer Spitze war, kamen wir auch dieses Jahr. Ja, die Flucht vor Karneval funktioniert hier kolossal“ und treten die Heimreise an.
Im ehemaligen Frachtraum des Bahnhofs Ahrdorf bei Köln probt im Sommer 1981 die Rockgruppe BAP für ihre dritte Langspielplatte. Die Band hat die Hälfte der Lieder noch nie gespielt. Alles muß neu erarbeitet werden. Schließlich fehlen auf der Platte noch sechs Minuten Spielzeit. BAP-Sänger Wolfgang Niedecken liest „Verdamp lang her“ vor. Aussichtslos, findet die Band, langweilig. Gitarrist Klaus Heuser hängt müde in der Ecke, mault „womöglich mit einem solchen Rhythmus“ und spielt eine ironische Rockphrase in Moll. Das mittlerweile BAP-charakteristische „Taka- Taka“ läßt alle aufhorchen. Der Schlagzeuger steigt ein, der Bassist, plötzlich ist das Stück da.
Auf den Neuen Deutschen Musikwellen schaukeln Anfang der 80er Fräulein Menkes „Treetboot in Seenot“ und Nenas „99 Luftballons“. Da entdeckt WDR-Programmredakteur Wolfgang Neumann den Fels in der Ebbe: Er jagt die fünf Minuten und 45 Sekunden lange Bitternis über Mitläufertum und Zivilcourage so lange durch das Sendegebiet, bis die Hörer die Plattenläden stürmen. „Vielleicht haben die Leute im Refrain und in Wortfetzen von dem kölschen Text etwas wiedererkannt, was auch für sie verdammt lang her war und Bedeutung hatte“, meint Niedecken. „Bei mir taucht im Orkan dieses Liedes jedesmal mein Vater auf, der glücklich scheint, aber immer noch nicht checkt, was sein schwarzes Schaf da treibt.“
Die BAP-LP „Für Usszeschnigge“ geht binnen Wochen hunderttausendmal über den Ladentisch. BAP spielt als erste deutsche Band im „Rockpalast“ und im Vorprogramm der Rolling Stones. Als im Köln-Müngersdorfer Stadion 60.000 „Verdamp lang her“ singen, stürmt Mick Jagger in die Garderobe von Konzertveranstalter Rau und fragt entsetzt: „Tell me, Fritz, what the hell is this?“
14 Jahre später wälzen sich 14 Tonnen nach Morlitzwinden, in der Sommerluft das feine Sirren der Gürtelreifen. Niedecken kommt im schwarzen Tourbus. Weil BAP pausiert, spielt er mit der Leopardenfellband kölsche Versionen von Dylan-Liedern plus die Hymne „Verdamp lang her“. Sanft rollt der Bus an der Stelle aus, wo 15 Jahre zuvor die Kasten- Ente stöhnend zum Stehen kam. Auf Verdacht winken Emma Geißendörfer und Tochter Erika durch die getönten Scheiben. „Oben stehen Kaffee und Kuchen, Wolfgang.“ Unter den Zwetschgenbäumen hinterm Haus blöken Schafe, vom neuen Anbau glotzen leere Fensteröffnungen auf die umzäunte Wiese. „In der Nähe soll ein Erlebnis-Golfplatz entstehen“, sagt Erika. Wie sie dann neben der Betreuung der Gäste die Versorgung von 70 Muttersäuen und ihren Halbtagsjob in der Diakonie Schillingsfürst erledigen soll, ist ihr ein Rätsel.
Über die knarrende Holztreppe begibt sich die Leopardenfellband zu Tisch. Aufgetragen werden selbstgebackener Marmorkuchen und Kaffee aus einer Kanne mit Tropfenfänger aus rosa Schaumgummi. Emma freut sich, daß es schmeckt, Erika erzählt Anekdoten. Ob Wolfgang noch wisse, wie Blondie von einer Dorftöle geschwängert wurde und sie zwecks Abtreibung zum Schillingsfürster Tierarzt geflitzt seien? Das müsse 1981 gewesen sein. Aber es sitzen hier zwei Zeiten und trinken miteinander Kaffee.
Die Finger von Tourmanager Jacky Hildisch spielen auf der Eckbank eine nervöse Sonate. In Nürnberg wartet ein Radiotermin, erinnert er nach einer Stunde. „Kommt doch heute abend zum Konzert“, schlägt Niedecken vor. Während Erika einwilligt, ziert sich Emma. Die Kastelruther Spatzen seien eher ihre Wellenlänge, aber vielleicht könne BAP ja nächstes Jahr beim Riesenrinderfestival im Nachbarort spielen? Man will in Kontakt bleiben und macht parterre ein paar Erinnerungsfotos. „Vielen, vielen Dank!“ filzt Niedecken ins Gästebuch. Spreu wirbelt im Fahrtwind, als der Tourbus Morlitzwinden verläßt.
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