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Gleichheit geht im Zweifel vor Andersheit

■ Damit die Menschenrechte einen philosophischen Rang behalten: Die Philosophin Sibylle Tönnies verteidigt klassische Positionen des Universalismus

Sibylle Tönnies, Juristin und Professorin in Bremen, hat sich in ihrem soeben erschienenen zweiten Buch eine gründliche Rehabilitierung des Universalismus zum Ziel gesetzt. In der aktuellen Diskussionslage politischer und soziologischer Theorie sieht sie, mit guten Gründen, eine problematische Dominanz partikularistischer Positionen. Das führe, so Tönnies, zu einem Relativismus und weiter zu einer radikalen Infragestellung des Bestandes universalistischer Grundideen wie etwa der Menschenrechte.

Die starke Neigung vieler Linker zu Geschichts- und Kulturrelativismus, die manchmal durchaus wohlmeinend daherkommt als Ablehnung des westlichen Paternalismus und Kulturimperialismus, kann für Totalitarismus anfällig machen, wie Tönnies im Anschluß an Hannah Arendt aufzeigt. Auch in aktuellen feministischen Positionen und im Kommunitarismus erkennt sie anti-universalistische Haltungen, ebenso wie in der Systemtheorie Luhmanns, bei Habermas und Talcott Parsons. Der Auseinandersetzung mit solchen als anti-universalistisch interpretierten Theorien widmet sie die zweite Hälfte ihres Buches.

Im ersten Teil hingegen leistet Tönnies eine gründliche Aufarbeitung westlicher Kulturgeschichte. Sie behandelt den Universalismus unter mehreren Perspektiven. Zuerst skizziert sie seine Merkmale und theoretischen Bezugspunkte. Universalismus sei immer verbunden mit Individualismus, verstanden als die Notwendigkeit, die einzelnen Menschen aus ihren überkommenen Bindungen in Gemeinschaften zu lösen, um so der Idee der Gleichheit aller Menschen und dadurch am Ende auch der Offenheit gegenüber Fremdem Raum zu geben.

Die Auflösung der traditionalen Gemeinschaften ist also eine Bedingung des Universalismus, eine andere der Idealismus, gekoppelt an die Idee historischen Fortschritts. Hier ist Tönnies' Darstellung argumentativ leider nicht besonders scharf. Es ist nicht zu sehen, warum sich Universalismus zwingend mit Fortschrittsidealen und der von ihr bekämpfte Partikularismus ebenso notwendig mit Modellen der Wiederkehr des Immergleichen verbinden sollte.

Tönnies will zeigen, daß der Universalismus unbedingt bewahrt und als erstes Prinzip sozialer Organisation und moralisch- rechtlicher Wertsetzung gelten müsse, weil er allein die Sicherung der Grundrechte und damit die Bewahrung individueller Freiheit auf der Basis einer liberaldemokratischen Grundordnung gewähre. Um diese Meinung zu stützen, führt sie die Entwicklungsgeschichte des universalistischen Gedankens aus, dessen drei Wurzeln sie in der Stoa, dem römischen ius gentium und dem Christentum sieht.

Den Höhepunkt der Entwicklung hin zur Gesellschaft als bewußt und gemeinsam erkämpfter Lebensform der Menschen sieht sie in der Ausrufung der Menschenrechte. Die Gegenposition, die erstmals explizit von den Romantikern entwickelt und vertreten wurde, betonte immer das Besondere gegenüber dem bloß Allgemeinen und forderte dessen spezifische Anerkennung, wie es heute die Vertreter des Partikularismus und Relativismus tun.

Exemplarisch für Tönnies' Auseinandersetzung mit den anti-universalistischen Positionen ist ihre einseitige Beurteilung des Feminismus. Ihre These ist, daß die Feministinnen aus der Erfahrung, daß formalrechtliche noch nicht materielle Gleichheit zur Folge habe, die Idee universeller Gleichheit nun ablehnten und statt dessen die partikulare Anerkennung des Weiblichen als das ganz andere forderten. Ohne universalistische Grundannahmen aber, so Tönnies, sei der feministische Kampf um Gleichberechtigung seiner argumentativen Grundlage beraubt und zum Scheitern verurteilt. Die Frauen müßten zudem das Recht als eine Weiterentwicklung zutiefst weiblicher Interessen, nämlich des Verständnisses von Gerechtigkeit als Fürsorge, erkennen, dann würden sie sehen, daß ihre Ablehnung einer vermeintlich patriarchalen Rechtsstruktur auf einem Irrtum beruhe. Hier bezieht sich Tönnies auf Carol Gilligans Kontrastierung von weiblichen und männlichen Gerechtigkeitsidealen, um Justitia als im Ursprung weiblich darzustellen. Die Idee des Patriarchats sei nur eine Chimäre der Frauen und eine Folge der männlichen Urangst vor der überlegenen Kraft des Weibes.

Diese Kritik richtet sich gegen die feministische Differenztheorie und alle Versuche, die besondere gesellschaftliche Rolle von Frauen in allen Kulturen und Epochen aus den spezifischen Verknüpfungen von sex und gender zu erklären. Chancengleichheit in der Differenz, die eben weder rechtliche Gleichstellung noch materielle Gleichheit meint, wird von Tönnies nicht behandelt, obwohl gerade sie ihrer Idee entspricht, daß die liberaldemokratische Grundordnung des formalen Rechts die Voraussetzung individueller Freiheit sei.

Sibylle Tönnies' Buch ist dennoch ein perspektivenreicher und wichtiger Beitrag zur Verortung aktueller philosophischer Positionen. Ihre eigene pro-universalistische Haltung, die sehr akribisch auf die Defizite des Universalismus, vor allem seine mangelnde Affektbindung reflektiert, macht ihr Buch zu einer Herausforderung auch für GegnerInnen des Verfassungspatriotismus. Christine Hoertig

Sibylle Tönnies: „Der westliche Universalismus. Eine Verteidigung klassischer Positionen“. Westdeutscher Verlag, Opladen 1995, 267 Seiten, 48 DM

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