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■ NormalzeitDie protestantische Droge: Hungerstreik

Es begann mit dem Geschäftsführer einer Schuhfabrik in Burg bei Magdeburg, der wegen stockender Verhandlungen mit der Treuhandanstalt 1992 in einen Hungerstreik trat. Ebenfalls wegen der Treuhand trat dann ein Teil der Belegschaft des Berliner Batteriewerks Belfa in den Hungerstreik, und kurz darauf die Bischofferöder Kalikumpel, deren monatelange Nahrungsverweigerung 1993 die Medien beschäftigte. Auch eine Gruppe von PDSlern um Gregor Gysi, der zuvor die CDU-Kalikumpel unterstützt hatte, begann einen Hungerstreik in der Volksbühne, um gegen die Versuche der Bundesregierung zu protestieren, das SED-Parteivermögens einzukassieren.

In Mecklenburg-Vorpommern, im Dorf Passee, trat der SPD-Bürgermeister Adolf Wittek in einen Hungerstreik: Dort hatte ein CDU-Makler aus Bad Schwartau das gesamte Dorfzentrum für 52 Pfennig pro Quadratmeter erworben und dann den Bürgermeister aus seinem Büro sowie dessen Frau aus ihrem Konsum-Laden zwangsräumen lassen. Der Hungerstreik avancierte zum medial anerkannten Kampfmittel zwecks Erhalts von Arbeitsplätzen im Osten, der Westen zog mit jungkatholischen Lichterketten gegen Ausländerfeindlichkeit nach. Deswegen entschlossen sich die Kreuzberger Spaßpolitiker der KPD/RZ ebenfalls zu diesen Formen gewaltfreien Widerstands, als sie – angekettet an die Briefkästen vor dem Postamt am Halleschen Tor und mit Kerzen – gegen die Einführung neuer Postleitzahlen für den Bezirk SO 36 hungerstreikten.

In Westdeutschland griff dann sogar ein gar nicht lustiger Lektor eines Literaturverlags zur Waffe „Meditation und Fasten“, nachdem seine konventionellen Versuche, ein von ihm herausgegebenes Buch von Ernst Herhaus in den Medien rezensiert zu bekommen, gescheitert waren. Und im Anschluß einer Jugoslawien betreffenden „Avignon-Deklaration“ von Künstlern trat eine Gruppe französischer Prominenter um Ariane Mnouchkine ebenfalls in einen todernst gemeinten Hungerstreik – zur Beendigung der sogenannten Balkan-Krise.

In Berlin hatten derweil linke Kurden aus Protest gegen das Verbot und die Verfolgung der PKK einen Hungerstreik angefangen, wobei eine ihrer Genossinnen an Herzversagen gestorben war. Die hungerstreikende Kurdengruppe war nur mangelhaft medizinisch betreut worden, hieß es anschließend. Beim Hungerstreik einer Gruppe Boizenburger Bürger Anfang August war dies absolut nicht der Fall: Es handelte sich dabei mehrheitlich um Mitarbeiter des Boizenburger Krankenhauses. Mit ihrer Nahrungsverweigerung wollten sie einen Klinik-Neubau erzwingen, den mitzufinanzieren ihnen nach der Wende die Stadt Kiel versprochen hatte.

Bei allen Hungerstreiks, an denen ich – nicht fastend! – teilnahm, stellte sich mir stets die Frage: Was ist Glück? Die meist auf Campingliegen und mit Mineralwasser beziehungsweise Säften „Kämpfenden“ empfand ich fast immer als glücklich, aufgekratzt gar. Die am Hungerstreik der Bischofferöder Kalikumpel beteiligte Pastorin Christine Haase sprach in diesem Zusammenhang neulich von einer glücklichen „Ganzheitlichkeit“, die während „der harten Auseinandersetzungen“ erreicht wurde. Anschließend fiel wieder alles auseinander, viele Beteiligte wurden krank, vier starben sogar – nach der Niederlage durch Treuhand, Bundesregierung und BASF.

„Man wird leichter, man bekommt Wind unter die Flügel, durch die anderen und durch die Solidarität von außen, auch über die Medien“, so sagte ein am Belfa-Hungerstreik Beteiligter. Er meinte das sowohl ironisch, körperlich, als auch ernsthaft psychologisch, perspektivisch. Das Ende eines Hungerstreiks wird fast immer als Absturz erlebt, auch wenn die Forderungen oder ein großer Teil davon erfüllt wurden. Helmut Höge

wird fortgesetzt

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