: Die Lust an der Angst
Houserunning – eine neue Extremsportart, ausprobiert ■ von Detlef Kuhlbrodt
Es ist ziemlich heiß. Auf dem Dach des Plattenbaus in der Fischerinsel 9 stehen ratlose Männer. Sie wissen nicht mehr so genau, was sie hierhergetrieben hat und wieso sie das mitmachen und nicht statt dessen am See sind und baden. Nervös reden einige von ihren Bungee-Jump-Erfahrungen und streiten darüber, ob es nun grusliger oder weniger gruslig sei, die 65 Meter herunterzulaufen – gehalten nur von einem Bergsteigerseil am Rücken, das Gesicht gen Abgrund. Die, die es noch grusliger finden, weil es länger dauert, sind in der Minderheit.
Einer, der schon an der drei Meter hohen Übungswand eine schlechte Figur machte, gibt auf und geht weg und schämt sich. Eine junge Frau aus Köln macht's superschnell. Weil Frauen halt mutiger sind. Tapfer gehen die anderen zur Abseilstelle. Als erfüllten sie eine unangenehme Pflicht, wie etwa als Kind zum Zahnarzt zu gehen. Jörg, der den „Run“ von seinem Chef geschenkt bekommen hatte, ist besonders nervös und schweigt sehr entschlossen. Aufmunternd sagt jemand, daß er danach bestimmt ein viel besseres Sexleben haben werde. „Ich hab' doch überhaupt keins“, sagt Jörg todernst und traurig. Außerdem sei er verheiratet.
Einer der jungen Betreuer, der den „Run“ in zehn Sekunden zu erledigen pflegt, ärgert sich, daß hier oben kein Kleinfernseher stehe – so muß die Sportschau ohne ihn auskommen. Auch erzählt er, daß sich Leute beim Bungee-Springen zuweilen im stillen Einverständnis runterschubsen ließen und daß Bungee-Springen vor allem im Osten boome und daß es in der Nähe des Hotels, in dem er untergebracht sei, eine Telefonzelle gebe, in der „ungefähr tausend“ schreckliche Spinnen hausten.
Hier oben duzt man sich: Irgendwann sagt der Betreuer zu seinem Walkie-talkie: „Jetzt kommt der Sowieso.“ Dann geht es sehr schnell. Oder es kommt einem zumindest sehr schnell vor. Jedenfalls ist es doch sehr verwirrend, wenn der Boden, auf dem man geht, keine rechte Schwerkraft entwickeln mag. Wie ein Idiot starrt man auf die Hauswand und das blöde Logo des Sponsors (RTL2), um der Höhenangst zu entgehen. Unten kriegt man eine Urkunde: „I did it.“
Seit einem Jahr ergänzt Houserunning die bunte Palette funorientierter Extremsportarten wie „Hot Rocket“, „Schluchting“, „Mega Dive“ (= „Super Swing“), Schokoladenwettessen und so weiter. Ausgedacht hat es sich der Münchner Stuntman Jochen Schweizer, der schon mal 500-m- Bungee-Sprünge absolviert hat und weltweit einer der größten Spaßsportunternehmer ist. Mehr als 150.000 Angstlustfreunde habe er bislang in die Tiefe geschickt und 1992 „50 Millionen TV-Kontakte“ gehabt, heißt es in dem Werbeblatt der „Jochen Schweizer Bungee-Jumping GmbH“. Wie immer man sich das auch praktisch vorstellen mag: 138.888 TV-Berührungen am Tag, 5.787 in der Stunde, 96 in der Minute – wann schläft Jochen Schweizer?!?!? Auf der religiösen Ebene ist das eingetragene Warenzeichen „Jochen Schweizer Houserunning“ sozusagen eine Instantinitiation, die nicht allzu lange vorhält (wg. Kapitalismus) und nur so tut, als bedeute sie irgendwas. Ansonsten ist Houserunning so ähnlich wie das erste Mal küssen. Lang zögert man, dann ist es schon vorbei, und man weiß nicht mehr so genau, wie einem geschehen ist oder auch: ob man die Richtige geküßt hat (Hauptsache, man hat es gemacht). Wenn Houserunning als Einstiegsdroge wie das erste Mal küssen ist, ist Bungee-Springen wie das erste Mal ficken. Hinterher hat man eine Menge zu erzählen. Dabei sind die Erzählungen meist monoton und kurz: „I did it.“ Hauptsache, man hat's gemacht, wobei es ja nicht mal so klar ist, ob man's selbst gemacht hat, denn eigentlich ist der, der gesprungen ist, ja nur eher ungeschickt heruntergefallen. Apparate haben ihn gehalten, dann hat man ihn vom Seil genommen. Man könnte auch einen nassen Sack runterwerfen.
Ein Houserunning kostet 70 Mark, nur noch kommendes Wochenende
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