: Am Ende der amerikanischen Welt
„Auf Partys gehen und Partys geben“ ist ein Motto der hedonistischen Insulaner von Key West. Nicht nur das sonnige Klima läßt Ausgeflippte und Aussteiger hier stranden ■ Von Peter Köpple
Key West abends um zehn: Möchte jemand die Unterhose dieses netten Herren sehen? Der Vorschlag heizt die Stimmung in „The Quay“, der Kneipe am Hafen, an. Das Publikum jubelt, und ehe sich der Besucher versieht, tanzt er schon mit Rocksängerin Sallie Foster und ihrer schnurlosen E-Gitarre zur Straße hinaus – mit den Shorts in den Kniekehlen.
Typisch Key West? „Das habe ich mich schon oft gefragt“, sagt Sallie Foster, „ich weiß es nicht.“
Hier am Ende der Straße, gut drei Autostunden über Brücken und Inseln vom Festland entfernt, treffen sich Aussteiger, Abenteurer und Ausgeflippte. Wer einmal kommt, der bleibt oder kommt zumindest immer wieder. Die Kleinstadt auf der tropischen Koralleninsel hat Anziehungskraft. Der Englischlehrer aus Boston tanzt in der Unterhose, der ehmalige gestreßte Manager aus Philadelphia schreibt Comic-Bücher, die Kunsthistorikerin arbeitet am Zapfhahn hinter der Theke, der gestrandete Seemann fotografiert Touristen.
Auch ich kann mich Key West nicht entziehen. Schon fünfmal hat mir der südlichste Zipfel der USA keine Wahl gelassen. Ich mußte einfach dorthin. Jetzt, beim sechsten Mal, habe ich Notizblöcke und Schreibzeug im Gepäck. Ich will es wissen. Was hat dieser Ort? Warum leben auf der kleinen Insel 100 Schriftsteller, 1.000 Künstler, 8.000 Schwule und 25.000 Lebenskünstler?
June Keith kam vor neunzehn Jahren als Go-go-Girl von New York nach Key West. Hier änderte sich ihr Leben. Sie wurde zur Autorin. In ihrem ersten Buch „Postkarten aus dem Paradies“ schrieb sie: „Ich glaube, ich werde nie verstehen, warum das Leben hier so übertrieben, um so viel größer, reicher, wirklicher erscheint.“ Helfen kann mir June Keith kaum. „Seit neunzehn Jahren“, sagt sie zum Abschied, „versuche ich ja selbst, das Geheimnis von Key West zu ergründen.“
Als geheimnisvoll, dunkel und korrupt beschreibt mir wenig später Krimiautor David Kaufelt die Stadt. „Für mich war Key West schon immer die Insel der Piraten“, meint er. Das sei für ihn der besondere Reiz, der ihm auch die Inspiration zum Schreiben gebe. Früher wurden von hier aus Schiffe geplündert, dann kamen die Schmuggler. „In den siebziger Jahren hatten wir die Kokain- und Marihuana-Piraten“, zählt Kaufelt seine Liste weiter auf, „und jetzt regieren die Immobilien-Piraten mit ihren skrupellosen Grundstücksgeschäften.“ In Key West findet David Kaufelt die Charaktere für seine Detektivgeschichten, die er dann in Neuengland spielen läßt, „um etwas Abstand zu Key West zu wahren“.
Ich überlege mir, zum Bürgermeister zu gehen – einer, der zwar keine Bücher schreibt, aber den Ort und seine 25.000 Einwohner genau kennt. „Da haben Sie Pech“, schmettert mich die Sekretärin im Vorzimmer ab, „der Chef ist für längere Zeit verreist, mit der Baseball-Schulmannschaft von Key West.“ Lächelnd fügt sie hinzu: „Unser Bürgermeister ist ein großer Baseball-Fan.“ Ich solle es doch einmal bei Landrätin Wilhelmina Harvey probieren. „Die weiß alles.“ Eine halbe Stunde muß ich im Gang des Landratsamtes warten, dann werde ich ins Büro gebeten. Am mit Akten übersäten Schreibtisch sitzt eine etwa 40jährige Frau, daneben in einem Sessel eine alte Dame mit Handtasche. Zwei Minuten lang bin ich reichlich verwirrt. Dann begreife ich, daß die 83jährige im Sessel die Landrätin ist.
Wilhelmina Harvey ist in Key West geboren, ihr Mann war einst Bürgermeister, sie selbst wird seit vierzig Jahren in alle möglichen öffentlichen Ämter gewählt, und jetzt meistert sie eine 60-Stunden- Woche. Sie liefert mir eine neue Beschreibung von Key West: „Wir haben hier Wirtschaftskrisen, Wirbelstürme, die Kuba-Krise 1962 direkt vor der Haustür und Flüchtlingsströme durchlebt. Das vereint uns.“
An Hemingway kann sich die 83jährige gut erinnern. „Der kam in den dreißiger Jahren nachmittags oft angetrunken und barfuß die Straße herauf, mit zwei, drei Fischen über der Schulter. Er hat in der Drogerie meiner Eltern eingekauft und die Rechnung meist anschreiben lassen.“
Nicht ohne Stolz zeigt mir die Landrätin die vergrößerten Fotos an der Wand: Wilhelmina Harvey mit Präsident Clinton in Washington, Wilhelmina Harvey mit der Königin von England auf Key West. Plötzlich fällt ihr eine Überraschung für mich ein: Weil sie den spontanen Besuch aus dem fernen Deutschland so entzückend findet, macht sie mich zum Ehrenbürger von Key West. Ich wundere mich etwas über die Großzügigkeit, mit der solcherlei Urkunden verteilt werden. Aber da fällt mir ein: Königin Elizabeth hat auch eine.
Zurück in den schwülheißen Gassen der Stadt, fallen mir die vielen blauen Flaggen an Wohn- und Geschäftshäusern auf. Das Sonnensymbol und die Conch- Muschel stehen für das Gefühl der Unabhängigkeit, auf das die Insulaner besonders stolz sind. Halb aus Zorn, halb aus Scherz hatte sich Key West 1982 spontan unabhängig von den Vereinigten Staaten erklärt. Damals hatten US-Beamte an der Verbindungsstraße zum Festland „Grenzkontrollen“ durchgeführt, weil sie Schmuggler und illegale Einwanderer vermuteten. Die Bewohner der Florida Keys waren empört und fühlten sich als Ausländer behandelt. Obwohl Washington die „Conch Republic“ nie offiziell anerkannt hat, haben sich die spaßfreudigen Insulaner einen eigenen „Staatsapparat“ aufgebaut.
Ich habe einen Termin beim obersten Minister der Conch Republic. In seinem Wohnwagen auf einem Schotterplatz am Hafen empfängt mich Generalsekretär Peter Anderson. Auf einem Liegestuhl, in Shorts und T-Shirt, erklärt er mit ernster Miene: „Ich bin der Chef der Exekutive und damit der wichtigste Bürokrat des Landes.“ Derzeit kümmere er sich um den Aufbau von Botschaften in der ganzen Welt. Vertretungen der Conch Republic gibt es bereits in Washington, Atlanta, Havanna, London und Zürich. „Diesen Sommer werden wir Botschaften in Kopenhagen und München eröffnen.“
Zwei Dinge soll ein Botschafter der Conch Republic tun: auf Partys gehen und Partys geben. Dann liest der Generalsekretär einen Abschnitt aus der Verfassung vor: „Unsere Mission ist der Abbau von Spannungen durch die Ausübung von Humor.“
Seit 1982 gibt es auch Reisepässe der Conch Republic. Anderson zeigt mir seinen eigenen roten Diplomatenpaß, der inzwischen mit Stempeln von gut einem Dutzend Länder gefüllt ist. Die Einreise in ein anderes Land sei ihm noch nie verweigert worden, sagt der Generalsekretär, obwohl er gar keinen US-Paß besitze. Jeder, der Lust hat, kann einen Conch- Republic-Paß beantragen. Das Dokument ist in Rick's Bar an der Duval Street für 19,95 Dollar erhältlich. Man muß auch nicht in Key West gewesen sein, um Botschafter der Conch Republic zu werden. Anderson meint, Interessenten sollen sich bei ihm melden. Adresse: General Secretary of the Conch Republic, P.O. Box 6583, Key West, FL 33041-6583. Der Generalsekretär hat auch ein Fax-Gerät in seinem Wohnwagen, Fax- Nummer 001-305-296-8803.
Noch immer weiß ich nicht, warum Key West so viele Homosexuelle anzieht. Fast ein Drittel der Inselbevölkerung ist schwul. Am Telefon sagt mir der Vorsitzende der Handelsvereinigung homosexueller Geschäftsleute, Stephen Smith: „Kommen Sie ruhig lässig gekleidet, am besten in Shorts.“ Beim Frühstück mit Pfannkuchen und Ahornsirup schwärmt Smith von der sexuellen Toleranz am Südzipfel der USA. „In New York oder San Francisco habe ich das Gefühl, meine Andersartigkeit durch Händchenhalten zeigen zu müssen. In Key West interessiert das niemanden.“
Die Homosexuellen entdeckten Key West Anfang der siebziger Jahre, als auch die Hippies in den Süden zogen. Sie kauften zerfallene Holzhäuser in der Altstadt und renovierten ganze Straßenzüge.
In sexueller Hinsicht sind die wilden Siebziger vorbei. Heute hält Key West, gemessen an der Einwohnerzahl, einen Spitzenplatz in der Aids-Statistik. „Rund 1.400 hier im Ort haben sich infiziert“, erklärt Smith, und er fügt mit leiser Stimme hinzu: „Etwa 400 davon leben noch.“
Ein schwules Liebespaar, das sich in Key West den amerikanischen Traum erfüllt hat, sind Joseph Liszka und Frank Romano. Als junge Burschen machten sie Urlaub auf der Insel, holten sich einen schmerzhaften Sonnenbrand und entschieden dann, in Key West einen Laden für Sonnencreme aufzumachen, „weil wir den Laden über Mittag schließen und zum Strand gehen konnten“. Heute ist das Liebespaar im Rentenalter, besitzt in Key West eine Kosmetikfabrik, die Aloeprodukte herstellt, 85 Angestellte, fünf Millionen Dollar Jahresumsatz. „Ist die extreme Abgeschiedenheit nicht schlecht fürs Geschäft?“ frage ich, während mir die beiden ihre Produktpalette präsentieren. „Klar würden wir in New Jersey oder New York wahrscheinlich zehnmal so groß sein“, antwortet Joseph Liszka, „aber schauen Sie doch mal aus dem Fenster: Sonne und Palmen. Es gibt mehr im Leben als Geld.“
Mit einer Flasche Aftershave in der Hand verlasse ich den Kosmetikbetrieb wieder. Bald ist Sonnenuntergang – in Key West 365mal im Jahr ein Spektakel. Am Mallory Pier versammeln sich Hunderte von Touristen, während ein Dutzend Straßenkünstler gegen den rot werdenden Sonnenball um die Aufmerksamkeit der Besucher kämpfen. Am meisten Applaus bekommt die sinkende Sonne.
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