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Der Augenarzt als Präsident

Seine Patienten sehen Swjatoslaw Fjodorow schon als nächsten russischen Präsidenten. Das Land will er wie seine Augenklinik führen  ■ Von Barbara Kerneck

Als „dunkles Pferdchen“ bezeichnet man in Rußland einen Kandidaten, der sich ziemlich spät einem Wettbewerb angeschlossen hat und doch im Endpurt die anderen überholt. Bei den russischen Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr wird dies, nach Meinung seiner AnhängerInnen, der vitale Augen-Mikrochirurg Swjatoslaw Fjodorow sein. Gegen zahlreiche bürokratische Widerstände ersetzte er als weltweit erster in den sechziger Jahren getrübte Linsen in menschlichen Augen durch künstliche Implantate. Später entwickelte er bahnbrechende Operationstechniken gegen Kurzsichtigkeit. Jetzt will der silberhaarige 67jährige auch in der Politik erfolgreich sein.

Seine „Partei für Selbstverwaltung der Werktätigen“ (russischer Name „PST“ – bisher 9.000 Mitglieder) hat Fjodorow erst im Januar dieses Jahres gegründet. Seither wird er bei Umfragen neben General Alexander Lebed, dem liberalen Wirtschaftswissenschaftler Grigori Jawlinski und Wladimir Schirinowski als einer der beliebtesten Präsidentschaftskandidaten genannt. Fjodorow ist kein Nationalist, aber seine Äußerungen verraten einen selbstgestrickten Patriotismus. Der wahre Sozialismus, so meint er, stehe seinem Lande erst noch bevor. Der chronisch optimistische Onkel Doktor träumt davon, alle Brillen ins Museum zu verbannen und Rußland in eine geschlossene Aktiengesellschaft zu verwandeln.

Die Keimzelle dafür befindet sich im Norden Moskaus. Die imposanten Gebäude des „Komplexes für Augen-Mikrochirurgie“ ragen wie eine Zitadelle des Erfolges aus dem russischen Wirtschaftschaos. 300.000 Operationen werden hier jährlich durchgeführt. Das Rezept für den Erfolg ist laut Fjodorow ein Miteinander von Medizin, Dienstleistungen und Forschung. Obwohl hier die Krankenhausaufenthalte kürzer sind als anderswo, gehört selbstverständlich ein Hotel zum Komplex – hauptsächlich für die ausländischen Gäste. Die kleinen PatientInnen haben eine eigene, von Kinderpsychologen gestaltete Station. Viele der hier verwendeten medizinisch- technischen Instrumente, Präparate und Implantate wurden erst vor Ort entwickelt.

Das Besondere der Augenklinik ist neben ihren medizinischen Erfolgen jedoch ein von Fjodorow entwickeltes Eigentumsmodell. So sind die Angestellten zugleich auch Besitzer des Komplexes.

Die Augenklinik gehört den Angestellten

Die Hälfte der erzielten Einnahmen wird für Investitionen verwendet, die andere teilen die Angestellten unter sich auf. So erhalten 18 Operations-Brigaden, insgesamt über 900 Menschen, gemeinsam 23 Prozent jedes Tageserlöses. Wie jede einzelne Brigade ihren Anteil unter sich aufteilt, ist ihre Sache. „Ob sie alles einem geben, den anderen aber nichts, ob sie sich dafür betrinken, die Station mit roten Rosen ausschmücken oder den gemeinsamen Tageserlös einer Krankenschwester spenden, die ein Familienmitglied zu beerdigen hat – das ist mir völlig schnuppe“, kommentiert Fjodorow.

Im großen und ganzen geben in seinem Betrieb bei der Honorierung allerdings Qualifikation und Dienstalter den Ausschlag. Das Durchschnittshonorar pro Monat beträgt zur Zeit anderthalb Millionen Rubel, etwa fünfmal mehr als der momentane Durchschnittsverdienst in Rußland.

Stets erwähnt Fjodorow die hohe Effizienz seiner Einrichtung und führt sie auf sein Modell zurück. „Im Westen erblindet unter 700 bis 800 Operierten einer, bei uns nur einer unter 11.000. Das heißt, wir arbeiten zwölf- bis dreizehnmal besser.“ Natürlich lassen sich diese Angaben nur schwer überprüfen. Der berufliche Erfolg ist aber gleichzeitig auch Grundlage und Voraussetzung für den politischen Erfolg.

Für Fjodorow spricht das Vertrauen, das man seiner Methode entgegenbringt. 85 Prozent aller Operationen werden auf Bestellung des staatlichen Gesundheitssystems und für die PatientInnen unentgeltlich durchgeführt. Etwa dreißig AusländerInnen pro Tag dagegen zahlen 1.250 Dollar je Operation. Außer 16 Filialen in Rußland unterhält das Zentrum eine Klinik im japanischen Osaka und eine in San Marino, zwei Hospital-Dampfer, die vornehmlich im Mittelmeer kreuzen, und zwei große Operations-Busse.

Ökologische Produkte für die Klinik

Im Umland hat man ein beachtliches Stück Grund und Boden erstanden. Dort wird ökologisch Ackerbau betrieben, dort stehen 500 Kühe und – Fjodorows ganze Freude – ein veritables Gestüt. Zahlreiche Fotografien zeigen ihn zu Pferde. Der Arzt, der als Junge bei einem Unfall einen Fuß verlor, fand erst im Alter zu dieser Fortbewegungsweise. Im benachbarten Dorf Slawino stehen vierzig Fünfzimmerdatschen, die MitarbeiterInnen auf Raten kaufen konnten. Eine der Datschen bewohnt der Professor ständig mit seiner Familie. Er ist in dritter Ehe verheiratet und hat vier Töchter.

Vor allem aber denkt der Augendoktor an die Zukunft. Der größte Teil der MitarbeiterInnen trägt immer ein Walkie-talkie in der Tasche, weil sie jederzeit für ihn erreichbar sein müssen. Der Chef erklärt allerdings, dies geschähe nicht aus Kontrollzwang, sondern nur der Zeitersparnis wegen: „Es ist nicht meine Sache, zu überwachen, ob Tante Marusja heute rechtzeitig die Hintertreppe geputzt hat. Solche Dinge müssen sich im Kollektiv von selbst regulieren. Ich befasse mich nur mit Fragen der grundsätzlichen Koordination und den Strategien für die Zukunft. So sollte das auch der Präsident eines Staates sehen.“

Angesichts dieser Aussage läßt sich freilich ein Verdacht nur schwer abschütteln, daß nämlich Fjodorow einem logischen Trugschluß erlegen ist, den der amerikanisch-österreichische Psychotherapeut Paul Watzlawick in die Formel kleidete: „Noch mehr des Guten ist besser!“ Als Arzt müßte Fjodorow allerdings klar sehen, daß dies schon bei der Dosierung von Medikamenten nicht hinhaut, erst recht nicht bei der Übertragung von Problemlösungen aus kleineren Räumen in große.

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