piwik no script img

Symbole der Unreinheit

Die Geschichte der blutigen Teilung Indiens 1947 ist wohlbekannt: Zwölf Millionen Vertriebene, über eine Million Tote. Die Geschichte von Zehntausenden Frauen, die „um der Ehre ihrer Gemeinschaft willen“ ermordet, entführt und vergewaltigt wurden, ist allerdings noch nicht erzählt – zu lange währte ihr traumatisches Schweigen  ■ Von Urvashi Butalia

Im Jahre 1947 befreite sich Indien aus der Kolonialherrschaft und wurde unabhängig. Die Euphorie darüber wurde allerdings von der Teilung Indiens in zwei Länder, Indien und Pakistan, überschattet. Während des gesamten Kampfs um Freiheit hatten sich die Nationalisten das Land in weiblichen Begriffen vorgestellt: Indien war das Mutterland. Als eine andere Nation – Pakistan – aus seinem Gebiet herausgeschnitten wurde, war das, als sei der Körper dieser Mutter verletzt worden.

Teilung bedeutete auch die Vertreibung von Millionen Menschen: Nach Schätzungen sollen es zehn bis zwölf Millionen gewesen sein – Hindus, die von Pakistan nach Indien, und Muslime, die von Indien nach Pakistan zogen. Diese Massenbewegung zu Fuß, in Zügen, Bussen und Wagen war von beispiellosen Gewalttaten begleitet, als Angehörige beider Gemeinschaften Angehörige der jeweils anderen ermordeten, ausplünderten und mißhandelten.

Insbesondere Frauen waren das Ziel: in beiden Religionsgemeinschaften wurden Frauen von Angehörigen ihrer eigenen Gemeinschaft ermordet oder zum Selbstmord gezwungen – „zum Schutz ihrer Ehre“, die irgendwie zu einem Synonym der Ehre der Gemeinschaft geworden war. Man befürchtete, daß gefangene Frauen zum Religionsübertritt oder zum Geschlechtsverkehr gezwungen würden: ein Angriff auf die „Reinheit“ der Rasse.

Tausende von Frauen wurden von Angehörigen der anderen Gemeinschaft gefangen, entführt, vergewaltigt – schätzungsweise 33.000 bis 50.000 Hindu- und Sikh-Frauen und etwa 21.000 Musliminnen. In einem Versuch zur Rückerlangung ihres „Eigentums“ vereinbarten die beiden neu entstandenen Nationalstaaten eine „Befreiungsoperation“, in der entführte oder freiwillig fortgegangene Frauen aufgespürt und zur Rückkehr in ihre „Heimat“ gezwungen wurden – ohne Rücksicht auf ihre Wünsche. Die Frauen – besonders in Indien – hatten keine Wahl. Dort dauerte diese Operation bis 1957; inzwischen hatten viele entführte Frauen Kinder und mußten eine zweite Vertreibung über sich ergehen lassen. Häufig nahmen ihre Familien sie nicht wieder auf – weil sie verunreinigt seien. Frauen mit Kindern waren in Hindu-Familien noch weniger willkommen, da Kinder „lebende Symbole“ der Unreinheit waren. Deshalb mußten sie ihre Kinder entweder abgeben (und in Waisenhäusern unterbringen) oder, wenn sie schwanger waren, abtreiben lassen.

Das Schicksal dieser Frauen war Gegenstand intensiver Parlamentsdebatten, in deren Verlauf der weibliche Körper zu einem Synonym für den Körper der Nation wurde: Obwohl die Nation nun verstümmelt war, mußten die Körper der gegen ihren Willen „verunreinigten“ Frauen zurückgeholt und gereinigt werden.

Ein großer Teil dessen, was gewöhnliche Menschen während der Teilung erlitten – der Bodensatz der Geschichte dieses Ereignisses –, ist in der kollektiven Erinnerung noch gegenwärtig. Mit Geschichten aus jener Zeit wuchsen viele Kinder der ersten Generation nach der Unabhängigkeit auf. Hinsichtlich der Vergewaltigungen, Mißhandlungen und Entführungen der Frauen herrscht jedoch eine betäubende Stille. Niemand spricht darüber. Wird es einmal doch erwähnt, entsteht der Eindruck, es sei von „jemand anderem“ die Rede, als seien die Frauen irgendwie selbst schuld an ihrer Entführung und Vergewaltigung.

Von dieser verborgenen Geschichte erfuhr ich zum ersten Mal durch eine Sozialarbeiterin, die mit entführten Frauen gearbeitet hatte. Während die „offizielle“ Geschichte einige Hinweise auf die Haltung des Staates zu diesen Vorgängen liefert, verwies das Stocken in den Aussagen der betroffenen Menschen auf die Tiefe dieses Traumas. Schließlich gelang es mir, einige Berichte darüber aufzuspüren, was Frauen erlitten hatten: durch Lebenserinnerungen, die von Sozialarbeiterinnen aufgeschrieben worden waren, und durch Interviews mit ihnen.

Obwohl einige der einstmals entführten, vergewaltigten und später „geretteten“ Frauen noch am Leben sind, wollen sie nicht über ihre Erfahrungen sprechen; häufig sind sie auch ihren Familien unbekannt. Zugang zu ihren Erfahrungen besitzen wir nur durch die Sozialarbeiterinnen. Die Frauen sprachen über zwanzig Jahre lang nicht von ihren Erfahrungen, weil sie das Gefühl hatten, es sei zu schmerzlich, ihr Schweigen zu brechen. Schließlich taten sie es doch.

Auch ein junger Mann berichtete über die Ermordung seiner Schwester durch seinen Vater, die geschah, um „die Ehre der Gemeinschaft zu retten“. Die Geschichte ereignete sich in dem Dorf Thoa Khalsa in Rawalpindi (Pakistan), wo etwa hundert Frauen sich in einen Brunnen warfen, um „ihre Ehre zu retten“. Drei von ihnen überlebten. Im Brunnen war nicht genug Wasser, um sie alle zu ertränken. „In Gulab Singhs haveli [Haus] waren 26 Mädchen versammelt worden. Als mein Vater, Sant Raja Singh, seine Tochter brachte, führte er sie in den Hof, um sie zu töten, und er sagte als erstes, Sacche badsha [wahrer Gott], wir haben nicht zugelassen, daß dein Sikhi befleckt wird, und um ihn zu retten, werden wir unsere Töchter opfern und sie zu Märtyrerinnen machen, vergib uns.‘ Maan Kaut, meine Schwester, kam und setzte sich vor meinen Vater, und ich stand da, direkt neben meinem Vater, und klammerte mich an seine kurta, wie Kinder es tun. Aber als mein Vater den kirpan [das Sikh- Schwert, ein Wahrzeichen des Glaubens] schwang, wurde er vielleicht von Zweifel oder Furcht erfaßt, oder vielleicht blieb der kirpan in ihrer dupatta [Schleier] hängen. Niemand kann es sagen... Es war so schrecklich, eine scheußliche Szene. Dann zog meine Schwester mit ihren eigenen Händen ihre dupatta zur Seite, und dann schwang er den kirpan, und ihr Kopf und Hals fielen weit weg. Ich ließ mich fallen, weinte und schluchzte, und dabei hörte ich dauernd das Schwingen und Auftreffen der kirpans.“

Bei meinen Nachforschungen fand ich viele solcher Berichte. Heute wird in Erinnerungsfeiern in ganz Nordindien der „tapferen Frauen“ gedacht, die „freiwillig“ ihr Leben opferten. Niemand spricht von den entführten und vergewaltigten Frauen. Deshalb sind die folgenden Berichte so selten.

* * *

Ismats Geschichte

Vor der Teilung fuhr eine aristokratische Familie aus Rawalpindi (heute Pakistan) jedes Jahr in den Ferien nach Kaschmir; eine Lalaji- Familie aus Amritsar (heute Indien) fuhr auch jedes Jahr nach Kaschmir. Beide Familien wohnten im selben Hotel und trafen sich oft, so daß sich Erwachsene und Kinder beider Familien anfreundeten. Das ging so bis zur Teilung.

Einer der Söhne des Lalaji hieß Jitu, und die mittlere Tochter der Pathan-Familie hieß Ismat. Aus der Freundschaft zwischen der vierzehnjährigen Ismat und dem siebzehnjährigen Jitu wurde mehr. Aber erst bei der Teilung, als Ismat sich dem Gedanken stellen mußte, daß sie Jitu niemals wiedersehen würde, erkannte sie, was sie wirklich für Jitu empfand. Alles, was sie wußte, war, daß Jitus Familie in Amritsar wohnte. Sie begann, nach Möglichkeiten zu suchen, wie sie dorthin kommen könnte, um Jitu unter allen Umständen wiederzusehen, und verließ gegen acht Uhr abends das Haus, in Richtung eines eine Meile entfernten Hindu- Flüchtlingslagers.

Es war kaum einen Monat nach der Teilung. Das Hindu-Flüchtlingslager war immer überfüllt. Gewöhnlich wurden mehrere Züge eingesetzt, um die Hindu- Flüchtlinge noch rechtzeitig nach Amritsar zu bringen. Die indische Armee verwaltete das Lager. Ismat ging direkt zum Befehlshaber des Lagers und sagte mutig: „Ich bin ein Hindu-Mädchen. Ich bin von meinen Eltern getrennt worden. Bitte schickt mich sofort nach Indien.“ Der Befehlshaber war sich des Risikos für ein so junges Mädchen im Lager bewußt. Er brachte sie in seinem eigenen Jeep zum Bahnhof von Rawalpindi und setzte sie in einen Flüchtlingszug nach Amritsar.

Hindus und Muslime sprechen im Pandschab die gleiche Sprache, ihre Umgangsformen und Kleidung ähnelten sich. Deshalb gab es keinen Anlaß zu dem Verdacht, Ismat könne keine Hindu sein. Bei ihren Gesprächen mit den Helfern im Lager konnte sie Jitus Adresse herausbekommen und ihm eine Botschaft senden, er solle sie im Lager abholen. Jitu kam sofort. Leute, die sie sprechen hörten, schöpften Verdacht, daß sie keine Hindu wäre. Außerdem war sie noch minderjährig, deshalb ließen sie sie nicht mit Jitu gehen.

Jitu und seine Eltern besorgten sich daraufhin vom Distriktkommissar die Erlaubnis, Ismat mitzunehmen, und der Lagerleiter übergab ihnen das Mädchen. Bevor ein Befehl erwirkt werden konnte, sie doch zurückzuhalten, hatten Jitu und Ismat im Goldenen Tempel von Amritsar geheiratet. Jitus Familie war mit der Heirat einverstanden, und sie lebten glücklich zusammen.

Dann wurde das Abkommen zwischen Indien und Pakistan über die Rückführung entführter Frauen unterzeichnet. Bei einer Zusammenkunft der Minister der beiden Länder forderte der zuständige pakistanische Minister den indischen Minister Gopalswami Iyengar persönlich auf, Ismat nach Pakistan zurückzuschicken. Iyengar versprach, die notwendigen Nachforschungen anzustellen. Der Fall wurde im Search Service Bureau von Amritsar diskutiert, das mit der Suche nach Flüchtlingen befaßt war, wovon schließlich auch Jitu erfuhr. Er schilderte mir die gesamte Geschichte von Anfang an, beteuerte entschieden, es handele sich ganz und gar nicht um einen Fall von Entführung, und bat mich, ihm zu helfen. Ich erklärte Jitu, ihr Fall sei eine Angelegenheit zwischen den beiden Ländern geworden und damit eine internationale Affaire. Deshalb könne ich nicht definitiv zusagen, ihm helfen zu können.

Danach kam der Fall bei einem weiteren Treffen der Beamten in Lahore auf Staatsebene zur Sprache. Ich fragte einen Beamten namens Punjabi: „Wie kann der Fall eines Mädchens, das selbst solche Risiken eingegangen ist, als Entführung gelten? Außerdem, wie kann die indische Regierung sie gegen ihren Willen nach Pakistan zurückschicken?“ Mr. Punjabi antwortete: „Wie kann man die Eltern eines vierzehnjährigen Mädchens mit einem solchen Argument überzeugen? Würden wir nicht auch unter allen Umständen versuchen, unsere vierzehnjährige Tochter zurückzubekommen, wenn sie davongelaufen wäre? Wenn wir Ismat nicht zu ihren Eltern zurückschicken, wird die pakistanische Regierung niemals bereit sein, eine Vereinbarung über die Rückgabe von Hindu-Frauen zu unterzeichnen, die aus der Nordwest-Grenzregion entführt wurden. Statt die Gefühle einzelner in den Mittelpunkt zu stellen, sollten wir nur an die größere Gemeinschaft denken...“

Der Druck aus Pakistan hielt an. Später ging das Gerücht, der Fall sei beigelegt und Pakistan habe zugestimmt, Ismat in Indien zu lassen. Der Zweck dieses Gerüchts war, daß Jitu und Ismat davon erfahren sollten. Nach wenigen Tagen waren sie zurück in Amritsar. Ein Onkel Ismats arbeitete im pakistanischen Außenministerium. Wir baten ihn, nach Delhi zu kommen, um die ganze Angelegenheit zu besprechen. Während seines Aufenthalts in Delhi wurde eine Zusammenkunft zwischen ihm und Ismat arrangiert. Wir brauchten vier bis sechs Tage, um Ismat zu überreden, mit ihm zu gehen, ihre Eltern zu treffen und dann zurückzukommen.

Endlich erklärte sich Ismat einverstanden, vorausgesetzt, daß Jitu sie begleitete. Als die Einzelheiten ausgearbeitet waren, brachen beide sofort mit einem Nachmittagsflug von Delhi aus auf. Ich kam aus Lahore und holte sie in Amritsar mit einem Auto ab. Jitu hatte natürlich keinerlei Zweifel, wie Ismat sich entscheiden würde. Bei der Ankunft in Lahore gingen wir in das Sekretariat, wo wir Ismat dem Generalinspekteur der Polizei übergeben sollten. Ismat blieb im Wagen und wollte nur gehen, wenn Jitu sie begleitete. Schließlich redete Jitu selbst mit ihr und schickte sie in Khan Sahebs Haus zu Mr. Razvi und ihrem Onkel, zusammen mit dem Versprechen, sie nach sieben Tagen wieder abzuholen.

Es war gefährlich für Jitu, sieben Tage in Lahore zu bleiben. Deshalb schickten wir ihn am nächsten Tag wieder nach Amritsar und baten ihn, in sieben Tagen zurückzukommen. Zögernd fuhr er ab. Als wir bei Khan Saheb nachfragten, sagte man uns, Ismat sei in das Haus ihres Vaters gezogen. Wir erhielten die Adresse, und Mridulaben und ich gingen hin. Die Nachricht von unserer Ankunft wurde in die Frauengemächer gebracht.

Nach einiger Zeit kam Ismats Vater. Er benahm sich sehr unfreundlich. Nach längerem Zögern ließ er Ismat kommen. Als wir sie sahen, glaubten wir einen Augenblick, das sei gar nicht Ismat, sondern ihre Schwester. Ihre Kleidung, ihr Verhalten, sogar ihr Gesichtsausdruck – alles hatte sich verändert. Sie zeigte auf Mridulaben und sagte zu ihrer Mutter, „Amma, das ist die kurzhaarige Frau, die mich daran hinderte, herzukommen. Ich bat sie mehrere Male, mich herzubringen, aber sie lehnte es immer ab.“

Mir war, als bewege ich mich in einem Alptraum. Ich nahm mich mühsam zusammen und fragte Ismat: „Als wir im Sekretariat auseinandergingen, hast du in Jitus Gegenwart versprochen, uns deine Entscheidung mitzuteilen. Was willst du also tun?“ Bei der Erwähnung von Jitus Namen zuckte sie zusammen und schrie uns an: „Ich will das Gesicht dieses Sohnes eines Kaffern nie mehr sehen. Wenn ich könnte, würde ich ihn in Fetzen reißen und die Stücke den Hunden vorwerfen.“ Wir hatten keinen Grund, noch länger zu bleiben.

Als Jitu drei Tage später vor mir stand, tat er mir unglaublich leid, als ich sein abgezehrtes und trauriges Gesicht sah. Seine Wut kannte keine Grenzen: „Ihr habt mich alle verraten. Nina (Ismat) hatte in meiner Gegenwart versprochen, daß sie ihre Entscheidung bekanntgeben wolle, und das sollte heute sein. Bringt mich zu ihr. Ich will diese Entscheidung nur von ihr hören. Euch traue ich nicht mehr.“ Ich versuchte, ihm alles zu erklären, aber er ließ sich nicht besänftigen. Ich rief den zuständigen Beamten und bat ihn, eine Zusammenkunft zwischen Jitu und Ismat zu arrangieren, und sei es nur, um ihn zu beruhigen. Dieser Bürokrat antwortete kühl: „Diese Leute haben Lahore verlassen. Wenn Sie meinen Rat hören wollen, dann sehen Sie zu, daß dieser Junge nicht nach Lahore kommt. Er ist hier nicht mehr sicher.“

Aber Jitu war nicht bereit, auf mich zu hören. Er sagte: „Selbst wenn sie das unter dem Druck ihrer Eltern gesagt hat, würde sie ihre Meinung ändern, sobald sie mich sieht. Sie hätten sie zu mir bringen sollen. Warum sind Sie allein hingegangen?“ Ich gab mir alle Mühe ihm zu erklären, daß er in Lahore in Gefahr sei, aber er wollte nichts davon hören. Er sagte: „Ich bin sowieso ruiniert. Was macht es, wenn ich jetzt sterbe?“

Ich traf ihn 1952 am Grenzpostamt, als ich von Bombay nach Delhi fuhr. Sein Gesicht war bleich, und er war sehr abgemagert. Sein Begleiter erzählte mir, er habe Tuberkulose, und der Arzt habe ihm völlige Ruhe verordnet. Aber er kümmerte sich nicht um die Ratschläge des Arztes und tat, was ihm gefiel. Ich brachte es nicht über mich, ihm einen Rat zu geben.

* * *

Veeras Erzählung

Wir erhielten eine Petition, die Tochter eines Mannes vom Polizei-Unterinspektor eines Dorfes im Distrikt Multan, im pakistanischen Pandschab, zurückzuholen. Ihr Name und ihre Adresse waren korrekt, deshalb ging unsere Distriktsozialarbeiterin dorthin. Die Tochter sagte: „Mein Vater war mit meiner Heirat einverstanden, und ich will nicht zurück nach Indien gehen.“ Wir informierten den Vater. Er antwortete: „Meine Tochter ist gewaltsam entführt worden.“ Wem sollten wir glauben?

Ich bestand darauf, sie solle in das Lager nach Lahore gebracht werden, um Gewißheit zu erlangen, ob sie die Rückkehr nach Indien unter Druck verweigerte, und sie dann nach einigen Tagen dem Tribunal vorzustellen. Wenn eine Hindu-Frau mit Gewalt im Haus eines Polizeibeamten zurückgehalten wurde, was würde die Polizei dann in den Fällen anderer Frauen unternehmen? Sie mußte in das Lager von Lahore gebracht werden, um ein Exempel zu statuieren... Als sie schließlich in unser Lager gebracht wurde, schrie sie den Superintendenten an: „Schämen Sie sich nicht, eine verheiratete Frau mit Gewalt hierherzu

Fortsetzung Seite 16

Fortsetzung

bringen? Ich will bei meinem Mann bleiben. Mit meinen Eltern habe ich nichts zu tun.“

Sofort rief die Polizei an und sagte: „Beenden Sie Ihr Gespräch mit Veera, wir kommen und holen sie.“ Sobald eine Frau im Lager war, konnte die pakistanische Polizei sie nicht mit Gewalt holen, und es war noch etwas Zeit, bis das Tribunal zusammentrat. Aber Veeras rebellische Augen, ihr entschlossener Mund und ihre entschiedene Haltung machten es schwierig, die Wahrheit herauszufinden. Eines Abends, als ich schlafen gehen wollte, brachte der Leiter Veera. Ich bat sie, sich auf mein Bett zu setzen, und streichelte ihr sanft über den Rücken. Sie brach zusammen. Als sie sich beruhigt hatte, begann sie zu reden. Sie fragte mich: „Die Frauen im Lager sagen, hier sei eine Frau mit kurzen Haaren in Pandschab-Kleidern, die in Indien alles vermag. Selbst Pandit Nehru muß auf sie hören. Wird sie mich anhören, wenn ich die Wahrheit sage?“ – „Bestimmt“, antwortete ich.

Hier das Wesentliche aus Veeras Erzählung: Veeras Familie und die des Unterinspektors waren gute Nachbarn. Während der Unruhen sagte der Unterinspektor zu Veeras Vater, wenn er Veera zur Frau erhalte, könne er den Rest der Familie sicher über die Grenze nach Indien bringen. Hilflos beschloß der Vater, das Leben aller auf Kosten seiner Tochter zu retten, und ließ die beiden heiraten. Er gab ihnen 30 Tola Gold und das Haus, in dem sie lebten. Als die Rückführung der Frauen begann, beantragte er, auch seine Tochter zurückzuholen. Der Unterinspektor hatte bereits eine Frau und Kinder. Natürlich behandelte er Veera gut, aber wenn er aus dem Hause war, behandelte seine Frau sie wie eine Dienerin und nannte sie eine Kafferntochter.

Veera hatte begonnen, ihre Eltern zu verabscheuen, weil sie die gesamte Familie auf ihre Kosten in Sicherheit gebracht hatten. Und aus diesem Grunde beschloß sie, zu leiden und nicht zu ihren Eltern zurückzukehren. Ich versprach ihr, wir würden sie ihren Wünschen gemäß nicht zu ihren Eltern zurückschicken. Wenn sie heiraten wollte, würden wir ihr einen geeigneten jungen Mann suchen und sie mit ihm verheiraten. Aber sie würde all diese Tatsachen vor dem Tribunal offenlegen müssen. Für die pakistanische Polizei war der Fall zu einer Prestige-Angelegenheit geworden. Dann kam Veeras Fall vor das Tribunal.

Mr. Razvi sagte, der Angeklagte gehöre zu seiner eigenen Abteilung und er wolle während der Verhandlung anwesend sein. Veera sagte, sie sei bereit, nach Indien zurückzukehren, und ihre Heirat sei gegen ihren Willen erfolgt. Die Augen des Polizeiinspektors verrieten so viel Wut und Haß, daß er Veera und mich auf der Stelle erschossen hätte, wenn das möglich gewesen wäre. Als Veera ihre 30 Tola Gold zurückverlangte, antwortete er nur mit unzusammenhängendem Geschimpfe. Ich sagte Veera: „Güte kannst du von Menschen erwarten, nicht von Tieren. Gott wird dir alles geben. Es ist nicht unsere Sache, ihn um etwas zu bitten.“ Nach einiger Zeit fanden wir einen netten jungen Mann für Veera und sie heirateten. Als ich sie nach einigen Jahren zufällig in Delhi traf, war sie Mutter von zwei Kindern und glücklich.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen