: "Blavatzkys Kinder" - Teil 40 (Krimi)
Teil 40
An den Tagen, an denen es ein oder mehrere kleine Opfer gab, joggte er morgens mit besonderem Genuß. Anschließend frühstückte er langsam bei klassischer Musik, las Zeitung und verschloß seine im Erdgeschoß des rechten Seitenflügels des Schlosses gelegene Dienstwohnung gegen acht Uhr, um in die Labors im ersten und zweiten Obergeschoß zu gelangen.
Entweder lag eine kleine Leiche schon im Kühlraum, oder er nahm das betreffende Kind aus seinem Bettchen oder aus seinem Brutkasten und betäubte es auf dem Wickeltisch mit einer Spritze. Dann legte er den Körper mit Hilfe einer der beiden diensthabenden Schwestern in einen Kunststoffbehälter, manchmal nahm er ihn auch wie einen großen Laib Brot unter den Arm und trug ihn in die Pathologie, wo eine der Schwestern den kleinen Körper von jeder Kleidung befreite, abwusch und desinfizierte. Die Pathologie bestand nur aus drei Räumen, einer Kühlkammer, einem kleinen Raum mit Geräten und Verbrauchsmaterial und dem Sezierraum selbst. In dem Sezierraum standen die Liegen für die noch lebenden und die toten Kinder wie auf einer Intensivstation. Trautwein und Weingart nutzten es, wenn Körper länger durchblutet werden mußten.
Mit freudiger Anspannung verharrte Trautwein stets einen Moment, wenn der kleine Körper eines Säuglings vor ihm lag. Er hielt die Instrumente in beiden Händen in die Luft, bevor er sich mit äußerster Konzentration über ihn beugte und den ersten Schnitt setzte. Er zerlegte stets den gesamten Körper und versuchte, jedes Organ, Gehirn, Auge, Rückenmark, jedes Fitzelchen Haut, jedes Stück Knochen, Schleim- und Hirnhäute zu verwenden, bei den weiblichen Körpern auch die winzigen Eierstöcke.
Wenn neue Lieferungen von den Kindern kamen, wußte er nie, ob für ihn etwas dabei sein würde. Natürlich war er zufrieden, wenn der Lebenshof mit gutem, zuchtfähigem Material von der Kategorie I beliefert wurde. Aber er konnte nicht abstreiten, daß er sich über die Fehllieferungen aufrichtig freute. Kategorie II und III: rassisch nicht tauglich, aber Material für seine Kunst! Kinder, die von irgendwelchen Zulieferern falsch ausgewählt wurden, waren Geschenke.
* * *
Sie trafen den Staatsanwalt in seinem Büro in einem Gebäude, das die verschiedenen politischen Phasen Deutschlands so unversehrt überstanden hatte wie die Karrieren vieler NS-Juristen. Miriam fand ihn zu groß, zu blond, zu braungebrannt. Ein etwa fünfzigjähriger Tennistyp. Ein Schönling. Sobald der auf diese Weise mißtrauisch Beäugte allerdings den Mund aufmachte und an den richtigen Stellen der Schilderung vernünftige Fragen stellte oder offen erklärte, daß Recht nichts Abstraktes, sondern für ihn mindestens ein liberaler bürgerlicher Wert war, den er gegen Faschisten zu verteidigen gedachte, begann Miriam, ihm auf distanzierte Weise ein wenig zu vertrauen.
„Die Informationen gehen nicht aus diesem Raum. Ich weihe nur Leute in meiner Abteilung ein, deren Loyalität ich mir hundertprozentig sicher sein kann. Das Problem ist außerdem die örtliche Polizei. So wie Sie deren Verhalten schildern, müssen wir über ihre Köpfe hinweg handeln. Ich kenne außerdem den zuständigen Mann dort. Vielleicht drückt er in Sachen Lebenshof ein Auge zu, vielleicht hängt er mit drin. Wir müssen ihn übergehen. Das wiederum heißt, daß es sich um Straftaten handeln muß, die so schwerwiegend sind, daß die Einschaltung der Sonderabteilung gerechtfertigt ist beziehungsweise ein besonderer Stab gebildet wird, dem ausgewählte Polizeieinheiten zugeordnet werden.“
„Wir haben nicht mehr viel Zeit. Der Lebenshof ist durch die Aktion unserer Freunde gewarnt. Wir stellen eine Bedingung“, sagte Robert. „Wir wollen in jeden Schritt eingeweiht werden. Und wir wollen, daß Sie einen Stab bilden, in dem Sie, der zuständige Polizeieinsatzleiter, Drabert und zwei von uns sind.“
Zu ihrer Überraschung stimmte der Staatsanwalt zu. Dieser Stab konnte allerdings keine offizielle Einrichtung sein.
* * *
Der Briefkasten war voll. Reklame, weg damit. Miriam nahm einen kleinen Briefumschlag in die Hand, der mit einer altmodischen, großen Schrift adressiert war.
„Von Ion!“ sagte sie und machte den Brief noch im Eingang auf. „Soliza ist tot, Robert. Die Schweine haben sie doch noch gekriegt.“
Max, Lena, Lisa, Tobias und Karo frühstückten, als Miriam aufschloß. Sie setzte sich traurig auf einen Hocker. Alle starrten sie an.
Daß Paul wieder bei Bewußtsein war, berührte die Freunde mehr als die Nachricht des Todes von Soliza, die sie nicht gekannt hatten. Reuters Tod bewies ihnen, daß sie schnell handeln mußten. Pauls elektronisches Testament würde in zwei Tagen in alle Welt ausspucken, was passiert war. Dann waren der Lebenshof und wer immer dahinterstünde gewarnt. Sie mußten sofort handeln, aber wie?
Robert berichtete vom Treffen mit dem Staatsanwalt. Er machte sich Miriams skeptische Einschätzung zu eigen. Sie stritten lange. Für die Kooperation mit den „Staatstypen“, wie Karo sie nannte, sprach die militärische Stärke der Gegner. Dagegen, da waren sie sich einig, sprach berechtigtes Mißtrauen gegen die, die allzuoft mit den Faschos paktiert hatten. Schließlich hatte Max eine Idee, der sie alle zustimmten.
„Wir machen beides. Wir fahren heute auf unseren Hof. Für morgen abend bereiten wir ein Fest vor. Zu dem laden wir das Netz ein.
Fortsetzung folgt
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen