: Jene, die lieber im Eisloch fischen
■ Passend zum Festwochen-Thema Berlin/Moskau zeigt das Arsenal ab heute Dokumentarfilme von Viola Stephan
Eine Kamera irgendwo zwischen St. Petersburg und Moskau. Die Schlaglöcher der Straße – mit Regenwasser gefüllt, Schotter knirscht unter den Füßen eines schimpfenden Arbeiters: „Das 16. Jahr schon. Seit damals stinkt sie und stinkt vor sich hin bis jetzt. Aber allen ist das egal. Hier war ein Mensch, der hat gesagt, daß 600 Kubikmeter Gas hier pro Tag ausströmen ...“
In dieser Gegend jenseits jeglicher administrativen Zuständigkeit ist die Kamera ein Schimmer von Hoffnung, ein Tor zur Welt. Und weil die Vorbeilaufenden nicht genötigt werden, treten sie näher. „Wir haben die Kamera oft einfach aufgestellt und gewartet, was passiert. Da kommt jemand und geht nach dem Gespräch seiner Wege. Das ist ein natürlicher Anfang und ein natürliches Ende“, erklärt die Filmemacherin Viola Stephan ihre kalkulierte Zurückhaltung. Die Leute nutzen die Kamera in ihrem je eigenen Sinn. Sie geben Auskunft über ihre Erlebnisse während der Stalin-Ära, ihre Freude über die Wiedereröffnung einer Kirche oder über das Fischen im Eisloch, das einträglicher ist als jede Arbeit in einem Betrieb. Zufällige Begegnungen, die sich lakonisch Sequenz für Sequenz aneinanderreihen und ein facettenreiches Bild vom Leben in der russischen Provinz bieten.
Viola Stephan (45) ist promovierte Slawistin. Nach dem Studium in Deutschland absolvierte sie eine Ausbildung zur Filmemacherin in den USA. Dort drehte sie bereits eine Reihe von Dokumentarfilmen über Rußland und die USA. Seit neun Jahren lebt sie jetzt in Berlin. Danach befragt, was das Faszinierende an Rußland sei, antwortet sie: „Das Irrationale. Man ist immer fassungslos.“
Standen ihr zunächst Porträts über Intellektuelle und Künstler näher, so interessiert sie sich seit jener eingangs skizzierten „Reise von Petersburg nach Moskau“, die sie mit dem Kameramann Pawel Lebeschew auf den Spuren des russischen Volkshelden Alexander Radischtschews unternommen hat, zusehends für das sogenannte einfache Volk.
Soeben schloß Viola Stephan Recherchen in Kamtschatka für den Dreh im Winter ab. Rechtzeitig zur Berlinale im nächsten Februar wird eine ebenfalls dokumentarische Produktion über die russische Provinz Borowitschy fertig, die eine Vergleichsstudie zur „Reise“ von 1991 zu werden verspricht.
Viola Stephans Großeltern stammen aus Milkow. In diesem Ort hat sie ihren bislang umstrittensten Film gedreht: „Slask/ Schlesien“. Als er 1994 präsentiert wurde, zeigte sich die auftraggebende Redaktion des Südwestfunks enttäuscht. Man hatte eine Kritik an den aus Schlesien stammenden deutschen Übersiedlern, an deren volkstümelnder Tendenz zur Rekolonialisierung des „Schlesierlandes“ erwartet. Doch Stephan hat in Milkow etwas anderes gesehen. Ihr Film zeigt normales Leben, Resignation und Festlichkeit.
Schlesiendeutsche Bäuerinnen im Identitätskonflikt. In Polen gelten sie als deutsch, doch ihr Deutsch bedarf für unsere Ohren der Übersetzung. Frauen in Trachten sind wider Erwarten keine „Heim ins Reich“-Ideologinnen, und die schmetternde Bergwerkskapelle erweist sich nicht als radikalpatriotischer Verein.
Mit „Slask/Schlesien“ vollzog sich ein ästhetischer Wandel in Stephans Filmen. Während der 360-Grad-Schwenk in „Kriegsende“ von 1992 noch in der Testphase zu sein schien, gibt es nun mehrere rundum orientierende Blicke, in langen Einstellungen wird die Kamera immer beharrlicher. Durch sieben aus dem Off gesprochene polnische Sprachlektionen wird der Film strukturiert. Die poetischen Einstellungen erhalten an der Schnittstelle zum Off-Text Kontur. Und das ist neu. In den vorangegangenen Filmen gab es keine Metaphern, in „Slask/Schlesien“ drängen sie sich.
Bereits in der Exposition, die einen Kohlenberg in einen Grabhügel überblendet, deutet sich an, daß dieser Landstrich mitsamt seiner deutschen Gemütlichkeit einen schon längst dem Tod geweihten Anachronismus darstellt.
Dokumentarfilme von Viola Stephan verweigern den Blick auf die Interviewerin und stiften statt dessen eine Identität zwischen Kamera und Betrachtenden. Die nur sparsame Untertitelung erlaubt, uneingeschränkt zuzusehen, denn: „Es geht ja gar nicht um den Text, sondern darum, wie die Menschen etwas sagen.“ Und es ist wohl auch gerade dies, was die Lust am Schauen nicht versiegen läßt, die Faszination an Physiognomie und Gestik. Wenn ein verwittertes Gesicht mit helleuchtenden Augen und zerschlissener Stimme von der Deportation nach Sibirien erzählt, dann ist dieser Kommentar einprägsamer, als das gesprochene Wort es je sein könnte.
„Ich bewundere, wie diese Menschen dort leben, diese Gelassenheit“, sagt Viola Stephan. Bewunderung setzt Distanz voraus, und doch ist jedes Bild der neue Versuch einer Annäherung. Gisela Krone
Bis 6. 9., Programm erfragen: Arsenal, Welser Straße 25, Schöneberg, Telefon: 2186848
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen