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Offener Brief an Claire Marienfeld

■ betr.: „Claire Marienfeld im Schußfeld der Verweigerer“, taz vom 29. 08. 1995

Als ich gelesen habe, daß für Sie, Frau Marienfeld, Kriegsdienstverweigerer und Zivildienstleistende eine Generation von Egoisten darstellen, dachte ich mir zuerst, na gut, was soll mensch auch anderes erwarten von einer CDU-Politikerin, die noch dazu das Amt der Wehrbeauftragten innehat? Deren Meinung könnte dir eigentlich am Arsch vorbeigehen, denn solch unqualifiziertes Geschwätz bist du ja gewohnt von PolitikerInnen aller Couleur.

Aber diesmal hat's mich ganz persönlich und direkt betroffen, bin ich doch auch einer von diesen faulen, feigen und vaterlandslosen Egoisten. Sprich, ich bin Zivi in einer Einrichtung für epilepsiekranke Menschen. [...] Viele Geschehnisse in Deutschland und auf der ganzen Welt trugen dazu bei, daß sich der Egoismus in mich hineinfraß, sich dort festsetzte und einfach nicht mehr wegzukriegen war.

Dann kam der Tag der Entscheidung: Die Musterung. Doch auch im Kreiswehrersatzamt, im Schatten des deutschen Banners, setzte sich mein Egoismus, der inzwischen fester Bestandteil meiner Persönlichkeit geworden war, durch. Ich entschied mich für ein schlankes Leben in Saus und Braus als Zivi.

Und auch meine Faulheit kannte keine Grenzen mehr. [...]

Unzählige Telefonate und Briefe später war mir mein Traumjob sicher: Ich liege locker in der Sonne und kümmere mich so nebenbei, natürlich aus reinem Eigennutz, um epilepsiekranke, geistig- und körperlichbehinderte Kinder. Und halten Sie sich fest: Einen fürstlichen Sold sacke ich auch noch ein und verprasse ihn ganz allein.

Na, wenn das nicht Egoismus in Reinkultur ist!!!

Ihnen, Wehrbeauftragte Marienfeld, möchte ich nur noch eins sagen: Gebrechlichkeit, Senilität, Unfälle und Krankheiten machen vor niemandem halt. Sollten Sie jemals in so eine Situation kommen, auf einen oder gar mehrere Zivis angewiesen zu sein, denken Sie daran, die tun das aus reinem Egoismus und purer Faulheit. Weder Obersoldat Rühe, noch seine uniformierten Hampelmänner, die doch so viel für Ihren ach so geliebten Staat tun, werden Sie dann waschen, füttern, an- und ausziehen, sich mit Ihnen unterhalten, mit Ihnen lachen und weinen, all das für Sie und mit Ihnen tun, was zu einem halbwegs menschenwürdigen Leben gehört.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und dem Rest der Menschheit Millionen und Abermillionen Egoisten. [...] Thomas Becker, Egoist & Zivi,

Kehl

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