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Das glückliche Genie

Er schrieb über Leute von ganz unten, lebte schwarzwäldisch und irgendwie fremd im München der 80er Jahre, wo er als Kunststudent begann und später im Schumann's verkehren mußte. Vor allem aber war Thomas Strittmatter der rechtmäßige Erbe des Volksstücks  ■ Von Willi Winkler

Als man noch jung und dumm war und unbedingt an etwas glauben mußte, glaubte man sogar an Theater heute. Dort wurde eines Tages, zwölf Jahre ist es her, der geniale junge Dramatiker Thomas Strittmatter entdeckt, ein echter Schwarzwälder, und der rechtmäßige Erbe des Volksstücks. Auf dem Bild kam das Wunderkind aus einer Unterführung geschritten, ganz begabter Nachwuchs und zu den schönsten Hoffnungen berechtigend, aber irgendwie nicht ganz von dieser Welt. Später behauptete Strittmatter, er habe sich, bevor Gerhard Stadelmaier und der Photograph kamen, im Tunnel einen runtergeholt.

Thomas Strittmatter hatte ein Stück geschrieben, im alemannischen Dialekt zuerst, das „Viehjud Levi“ hieß und jenseitsmäßig perfekt war: über einen Dorfaußenseiter, auch noch rassendiskriminiert, die übliche Treibjagd. Es war der Griff nach ganz unten, der Anfang der achtziger Jahre eigentlich nicht mehr interessierte.

Brecht hatte man rauf- und runter gespielt, endlich Horváth wiederentdeckt und auch ein paar Jahre durchgenommen. Libgart Schwarz wurde mit den „Geschichten aus dem Wiener Wald“ sogar Schauspielerin des Jahres, weil sie so wunderbar verzweifelt auf Oskars Drohung reagierte: „Marianne, du wirst meiner Liebe nicht entgehn.“ Marieluise Fleißer hatte noch was von der Konjunktur. Sie lebte noch, und sie schrieb einen Aufsatz „Alle meine Söhne“. Die Söhne hießen Martin Sperr, Franz Xaver Kroetz und Rainer Werner Fassbinder. Die Söhne schrieben und spielten, weil die Zeit es so wollte, Jagdszenen aus dem Bauern- und Kleinstbürgertum. Das großstädtische Publikum, schon eine Generation früher der sozialen Kontrolle des flachen Landes entronnen, ergötzte sich eine Zeitlang an diesen Zootieren, die noch echt leiden konnten, dann kam wieder was anderes in Mode.

Anfang der Achtziger dachte niemand mehr an das Volksstück, aber Strittmatter beherrschte es; „Viehjud Levi“ war ebenso lehr- wie bilderbuchmäßig. 1984 las er in Klagenfurt um den Ingeborg- Bachmann-Pokal, bekam irgendeinen Trostpreis und brockte am Sonntag nach dem Erdinger Weißbier im Maria Loretto überm See einen Strauß Wiesenblumen für die Jurorin Gertrud Fussenegger. Er war schon sehr nett, ein Firmling, der seiner Großmutter den schönen Tag noch schöner machen will.

Beim Gruppenausflug nach Maria Saal ging er zwischen der Ansprache des Kulturreferenten Siegbert Metelko und dem Büffet- Eröffnungs-Gemurmel von Humbert Fink stracks auf den Leiter des Schneekluth-Verlags zu, der etwas analphabetisch an einer Säule lehnte, und fragte den Verleger von Mutter Kirchhoff resp. Evelyn Peters, ob er nicht auch der seine werden wolle. Im Jahr darauf erschienen „Erste Stücke“. Nicht nur ein Edelweiß ist ein Versprechen.

Strittmatter war da 22 und studierte Grafik in Karlsruhe. Klett- Cotta veröffentlichte irgendwelche wilden Zeichnungen von ihm und rechnete auf mehr vom jungen Genie. Das Genie warf die Kunst hin und kam nach München. Er wußte nicht recht, wie man sich als Genie betrug, fragte, wo man so hinginge in München, und überlegte, wie er das mit dem Bafög deichseln sollte. Für eine Campari- Edition fabrizierte er etwas Linolsiebdruckartiges für viel Geld und schwärmte dann vom japanischen Kugelfisch, der einen schon durch bloßes Anschauen mit seinem Gift töten könne.

Wir redeten junggescheit über das letzte verschollene Stück von Büchner, über Gaston Salvatore und über Strittmatters „Gesualdo“. Es war schon alles sehr genial. Namen schwirrten herum, Werner Herzog und die Kammerspiele, Filmförderung und Drehbuchprämien, und dunkelgelb vor Neid erzählte man sich, daß Simon Werle für Peter Stein die „Phèdre“ von Racine neu übersetzt hatte und dafür gleich zweimal 25.000 Mark auf die Hand bekam.

Thomas Strittmatter schrieb ein Stück, das in einer Plüschbar am Stiglmaierplatz uraufgeführt wurde, bekam noch mehr Preise und mußte wahrscheinlich mittlerweile bei Schumann's verkehren. Er war dabei bei der großen Kultur, sprach aber immer noch den hochschwarzwälder Dialekt und schaute wie frisch hereingeschneit in die große Stadt.

Nächste Woche mußte er nach London fliegen und mit einer Firma namens Casting sprechen, die ihm Leute zu vermitteln versprach, die nach Deutschland geschleppte Asylbewerber spielen konnten. Er erzählte sehr komisch von einem Wettkampf der Köche, den er sich ausgedacht hatte, aber als ich den Film „Drachenfutter“ dann sah, war er von Jan Schütte und nicht mehr von Strittmatter.

Er schrieb weiter Stücke, dann einen Roman, „Raabe Baikal“, aber vor allem schrieb er Drehbücher für Filme für Goethe-Institute. Strittmatter war weiter das Genie, aber das Genie hatte jetzt viel zu tun. So verlor man sich.

Anfang vergangenen Jahres traf ich ihn wieder, bei der Silberhochzeit von Harry Rowohlt.

Die Hamburger 50- und 60jährigen waren mit vogelscheuchenartigen Tanzbewegungen beschäftigt, und plötzlich stand er mitten unter ihnen, immer noch das junge Genie, fröhlich und irgendwie nicht ganz von dieser Welt. Er ziehe gerade um, von München nach Berlin, sagte er in seinem stadtfernen Dialekt, man müsse jetzt nach Berlin und natürlich zum Prenzlauer Berg. Er war mit dem Auto da, das zu Hause in Villingen-Schwenningen zugelassen war, der Kofferraum, der Rücksitz voll mit Sachen: Er zog in diesem Augenblick um, genau jetzt in dieser Nacht.

Thomas Strittmatter war erst 33, als er vergangenen Dienstag starb. Von einem bestimmten Alter an ist es nicht mehr lustig, wenn jemand jung stirbt. Er brannte, heißt es dann, vielleicht sogar lichterloh wie Werner Schwab, der sich an Silvester 1993 endgültig zu Tode gesoffen hatte. Strittmatter sah nicht krank aus, nicht überarbeitet, nicht lebensunlustig, er war freundlich wie immer und vermutlich dank der Subventionskultur ein gemachter Mann. Ob noch das ganz große Werk von ihm zu erwarten war, ob er die Hoffnung des Gegenwartstheaters war, ist mir völlig wurscht. „Hier wird eine Leidenschaft spürbar“, heißt es bei Richard Brautigan, „die / einen tauben Heiligen dazu bringen könnte / Violine zu lernen und in Stonehenge Beethoven zu spielen.“ Aber er starb einfach. Es ist einfach nicht zu fassen.

Einmal saßen wir in der Küche der großen Wohnung von Hartmut Riederer in Nymphenburg. Riederer beschwerte sich über Achternbusch, der ihn bei jeder Gelegenheit demütigte und gleichzeitig ausbeutete, und zitierte dann wieder Hegel und Lyotard. Martin Sperr hockte am Tisch, verständnislos, ausschließlich mit sich beschäftigt und mit dem Essen. Sperr hatte Hände, an denen jeder einzelne Finger so dick war wie ein Babyarm, und er schaufelte ungeheure Mengen in sich hinein. Er war auch einmal sehr berühmt gewesen, dann kam ein schwerer Unfall. Aber er hatte überlebt. Inzwischen war er nur noch Schauspieler, Schauesser und natürlich Koch.

Beide kochten, der unglaublich tuntige Sperr und Strittmatter mit seiner fremdartigen Naivität. Bei den Zutaten sangen sie sich Arie und Rezitativ vor, überboten einander in Gewürz-Koloraturen, wetteiferten um die raffiniertesten Rezepte. Riederer war melancholisch, Strittmatter rauchte, Sperr fraß, aber wenn er den Mund einmal leer hatte, lobte er Strittmatter und firmte ihn als seinen eingeborenen Sohn, fraß und thronte und fraß und breitete schützend seine Patschpranken aus, und Thomas Strittmatter rauchte und war einfach nur glücklich.

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